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Written by Stefan Stoev   

Zeitbrücke

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Freundschaften

Stefan Stoev


Buchauszug: Kurzfassung - Online-Version

© IDEA Society

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 4

Einleitung und Danksagung 6

Aktives Gedenken 8

I. Aller Anfang ist schwer oder Anlaufschwierigkeiten mit Happyend 10

II. Eine 360° Drehung durch das Museum 11

III. Die Gedenkdiener haben viele Freunde 34

IV. Was der Mensch von sich kennt, ist sein Spiegelbild 59

V. Reise in dir Vergangenheit - Rückblicke 69

VI. Zusammenhänge 80

VII. Zurück nach Österreich 90

Schlusswort 91


Vorwort

Christoph Meran

Die Idee eines Leitfadens für österreichische Gedenkdiener in den USA, die Stefan Stoev mit dieser Publikation verwirklicht hat, ist ausgezeichnet. Aus seinen mit großer Hingabe zusammengestellten Interviews mit Zeitzeugen und tagebuchartigen Schilderungen spricht der Drang, das Erfahrene festzuhalten, es zu verarbeiten und weiterzugeben. Der ungefähr vierzehn Monate dauernde Zivildienst, den junge Österreicher an verschiedenen Holocaust Gedenkstätten in der Welt verbringen - mit großem Einsatz und geringen finanziellen Mitteln, gehört zu den prägendsten Erfahrungen im Leben dieser jungen Freiwilligen.

In meinen sieben Jahren als Mitarbeiter der österreichischen Botschaft in Washington D.C. hatte ich die Gelegenheit, fünf aufeinander folgende Gedenkdiener kennenzulernen, die ihren Dienst am US Holocaust Memorial Museum versehen haben. An meinen Begegnungen mit ihnen hat sich gezeigt, dass der persönliche Kontakt mit Zeitzeugen und Überlebenden der Shoa, das Kennenlernen ihrer persönlichen Schicksale die viel einschneidendere Erfahrung war, als es eine rein theoretische Beschäftigung mit dem Dokumentationsmaterial des Holocaust je sein kann. Der letztes Jahr verstorbene große Historiker Gordon Alexander Craig hat genau das gemeint, als er immer wieder sagte, man müsse geschichtliche Ereignisse anhand von Persönlichkeiten verstehen und nicht die Umstände allein, sondern viel mehr die Akteure in den Vordergrund stellen.

Neben der seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts verbindlichen Holocausterziehung an Österreichs Schulen ist der Gedenkdienst an Holocauststätten daher wesentlich. Er schärft die Sensibilität für jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung und ermutigt zum Widerstand gegen gefährliche politische Strömungen. Jeder Gedenkdiener, gleichgültig ob er in Washington, New York, Los Angeles oder Richmond seinen Dienst versehen hat, wird im Angesicht menschlicher Ungerechtigkeit eine mahnende Stimme in sich spüren und das Andenken an diesen oder jenen Menschen revue passieren lassen können, den er an einer der Gedenkstätten kennen gelernt hat. Das 21. Jahrhundert wird noch genügend Herausforderungen an uns stellen, an denen wir unseren Gerechtigkeitssinn testen werden können.

Ich möchte in diesem Zusammenhang eine persönliche Erfahrung erzählen, die mich stark geprägt hat. Ich hatte einen Freund, ein gebürtiger Wiener, der als Mitglied einer Spezialeinheit der britischen Truppen am D-Day hinter den feindlichen Linien in Frankreich per Fallschirm und mit einem Fahrrad abgeworfen wurde. Er und seine jüdischen Mitstreiter waren dem Holocaust entkommen und hatten es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Hitler zu besiegen. Sie hatten sich in England, mit neuen Identitäten ausgestattet, zu Spezialeinheiten ausbilden lassen, die für lebensgefährliche Einsätze vorgesehen waren. Ein Drittel der ungefähr 85 Mitglieder dieses Spezialtrupps überlebte den Einsatz am D-Day in Frankreich nicht.

Mein Freund zeichnete sich durch großen Optimismus und ungebrochene Lebensfreude aus, trotz schlechten Herzens und 83 Jahren. Ich fragte ihn, wie es ihm gelungen sei, im Angesicht der Erniedrigungen und Verluste, die seine Familie im Holocaust hinnehmen musste, eine so positive Haltung und Lebenseinstellung zu bewahren. Er sagte: “Aus zwei Gründen: Weil ich das getan hatte, was meine innere Stimme mir gebot. Und weil ich es mir zur Lebensmaxime gemacht habe, heiter auch im Angesicht der größten Not zu bleiben.”

Diese Sätze haben sich mir eingeprägt und ich hoffe, dass alle Gedenkdiener, die aufgrund ihres freiwilligen Einsatzes an Holocaust Gedenkstätten in die dunkelsten Winkel der menschlichen Grausamkeit geblickt haben - oder dies noch vor sich haben - ihre Erfahrungen im Sinne dieser Äußerungen nützen werden und dabei ihre Heiterkeit nicht verlieren.


Einleitung und Danksagung

Im Mittelpunkt dieses Buches ist die zwischenmenschliche Beziehung gestellt. Das Buch bildet eine Kommunikationsplattform zwischen den Generationen von Vertriebenen und der dritten Nachweltkriegsgeneration. Für manche Zeitzeugen ist der Kontakt mit den Gedenkdienstleistenden die erste Kontaktaufnahme zu deren Heimat. Für Jugendliche ist dieser Kontakt eine wertvolle Erfahrung und Einblick in geschichtliche Ereignisse. Diese Berührung führt zu vielen interessanten gegenseitigen Eindrücken von denen manche Eingang in diesem Buch gefunden haben.

Seit 1993 sind österreichische Gedenkdienstleistende durchgehend in Washington vertreten. Während dieser Zeit wurden zahlreiche Freundschaften und traditionelle Beziehungen zu österreichischen Emigranten und Zeitzeugen in der Umgebung Washingtons geschlossen. Seit dem ersten Einsatz eines Gedenkdieners hier in Washington ist der Aufgabenbereich am United States Holocaust Memorial Museum um eine Reihe von Tätigkeiten gewachsen. Die verantwortungsvolle Forschungsarbeit in der Historikerabteilung bzw. im Archiv ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Die persönliche Freundschaft zu den hier lebenden Österreichern ist eine soziale Tätigkeit, die mittlerweile von vielen Menschen hoch anerkannt und geschätzt wird.

Begleitend zu meiner Arbeit habe ich mich entschlossen, persönliche Eindrücke und Erfahrungen, die ich während des Gedenkdienstes gesammelt habe, aufzuschreiben. Ich empfand es für wichtig, dies schriftlich zu tun, damit sich jeder am Gedenkdienst in Washington Interessierte ein Bild von unserer Tätigkeit hier machen kann. Ich hoffe, dass auch manche Jugendliche durch dieses Buch zu einem Gedenkdienst oder einem anderen Sozialdienst angeregt werden.

Meine Erlebnisschilderung soll künftigen Interessenten die Gelegenheit geben, einen tieferen Einblick in die Einsatzstelle zu erhalten. Darüber hinaus kann sie ein besseres Verständnis für das Gesamtumfeld, d. h. auch für die Stadt Washington und die USA im Allgemeinen, schaffen. Das Buch könnte somit auch als Leitfaden herangezogen werden, um sich auf den möglichen Einsatz in Washington vorzubereiten.

Das Schreiben gab mir persönlich die Möglichkeit, diese aufregende Zeit zu verarbeiten und nochmals zu erleben. Die letzten vierzehn Monate bezeichne ich als eine unvergessliche Erfahrung fürs Leben...

Ich möchte mich bei allen Bedanken, die an diesem Buch mitgeschrieben und mitgearbeitet haben.

Bedanken möchte ich mich insbesondre bei den österreichischen Zeitzeugen, die mich in ihren Freundeskreis aufgenommen haben und mir Zugang zu ihren Lebensgeschichten gaben. Meinen aufrichtigen Dank möchte ich an Susanna und Felix Yokel aussprechen, die mich wie ein Familienmitglied behandelten und mit denen ich viele schöne Feste feiern durfte, unter anderem Pesach. Danke an Marie und Kurt Heinrich für die interessanten Gespräche und für die gemeinsamen Kunststunden. Danke an Regina Espenshade und Gene Hix, ohne deren Freundschaft und Unterstützung ich mir in Washington in mancher Hinsicht verloren vorgekommen wäre. Danke an George Czuczka, der mich zum Schreiben motiviert, und immer wieder ermutigt hat, dieses Buch fertig zustellen.

Danke am meine Kollegen im Museum. Ich habe von meinem Vorgesetzten Peter Black sehr viel gelernt, er hat immer für die Angelegenheiten des Gedenkdienstes und für mich persönlich Zeit gefunden und mich in jeglicher Hinsicht unterstützt. Danke an meine Kollegen und Freunde Patricia Heberer, Severin Hochberg, Theresa Dowell, Vadim Altskan, Steven F. Sage, Michael Gelb, Jürgen Matthäus, Bruce Tapper, Flora Singer und Gerald Schwab.

Nicht zuletzt möchte ich mich bei der Initiative Gedenkdienst herzlichst bedanken, durch die ich die Möglichkeit hatte, diese wertvolle Erfahrung zu machen. Je mehr ich mich in meine Tätigkeit eingelebt habe, desto mehr lernte ich diese zu schätzen. Der Gedenkdienst gab mir die einzigartige Gelegenheit, mich aus dem alltäglichen Leben herauszudenken und meinen Blick auf etwas zu richten, worauf ich heute stolz sein kann. Ich habe Eindrücke und Erfahrungen gesammelt, die meine Wertvorstellungen verändert haben und meinen weiteren Weg bestimmt wesentlich prägen werden.

Danke Herzlich, Stefan


Aktives Gedenken

Die Bedeutung der Vergangenheit für die Zukunft liegt im Erkennen von Zusammenhängen

Gregor Ribarov

GEDENKDIENST ist eine politisch unabhängige Organisation, die sich mit den Ursachen und Folgen von Faschismus, Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzt. Unser Augenmerk gilt insbesondere der Rolle von ÖsterreicherInnen als Täter, Mitläufer und Zuschauer. Zugleich richten wir unseren Blick auf die oft vergessenen Geschichten jener ÖsterreicherInnen, die vom NS-Regime verfolgt, vertrieben, ermordet wurden.

Zwar mag in den letzten Jahren verstärkt eine öffentlich-politische Auseinandersetzung damit stattgefunden haben, so kratzt sie doch nur an der Oberfläche dieses „Meeres an Geschichten“. Mit medienwirksamen Inszenierungen scheint es zwar möglich einen Großteil der Bevölkerung zu erreichen, jedoch muss klar sein, dass man größeren Zusammenhängen einer- und persönlichen Schicksalen andererseits nicht gebührend gerecht werden kann. Gerade das Gedankenjahr 2005 hat gezeigt, wie einfach es ist, in unreflektierte Bauchpinselei zu verfallen anstatt einen produktiv-kritischen Diskurs zu führen.

Dass es keinen Bedarf an einer solchen aktiven Erinnerungspolitik gäbe, kann als Ausrede nicht herhalten. Seit 1992 haben an die zweihundert Mitglieder unseres Vereins, unter durchaus widrigen Bedingungen an zahlreichen Einrichtungen, die auf die eine oder andere Art Ursachen und Wirkungen des Holocaust thematisieren, in 13 Ländern einen Gedenkdienst geleistet. Zahlreiche junge Interessenten zeigen weiterhin, dass es Ihnen wichtig ist sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und in der Konsequenz für die Gegenwart gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufzutreten.

Aktives Erinnern ist allerdings, um nicht in Illusionen zu verfallen, keine leichte Angelegenheit sondern ein Prozess, der hohe Anforderungen an jene stellt, die sich entschließen das bereits proklamierte Meer an Geschichten befahren zu wollen. Persönliche Schicksale und Lebensgeschichten werden wie ein Mosaik aus unzähligen Details geformt und sind derart vielschichtig, dass sie sich einer Bewertung oder Klassifizierung weitestgehend entziehen. Sich mit ihnen zu beschäftigen braucht vor allem Zeit und einen entsprechenden Rahmen. Nur so ist auch das Erkennen von größeren historischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen möglich, die einmal gewonnen, auch in der Gegenwart Orientierung geben können. Um die Bereitstellung dieses Rahmens bemüht sich GEDENKDIENST nun seit über 10 Jahren erfolgreich. Vor allem das positive Feedback der zahlreichen Überlebenden die mit Gedenkdienstleistenden an den verschiedenen Einsatzstellen in Kontakt treten bestätigen unsere Arbeit. Für viele ist es eines der wenigen späten Zeichen von Anerkennung und nicht zuletzt auch eines Gesinnungswandels, dass sich junge Österreicher der dritten und vierten Generation mit ihrer Geschichte und der Täterrolle Österreichs beschäftigen.

Eine derart profunde und eingehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wirkt sich auch auf die Gegenwart aus. So sind viele ehemalige Gedenkdienstleistende ehrenamtlich oder sogar beruflich in zahlreiche zeitgeschichtliche Projekte involviert, so auch im Verein. GEDENKDIENST bietet allen Interessierten eine Plattform für inhaltliche Diskurse, u.a. durch die Veranstaltung von Tagungen und Studienfahrten sowie die Vortragsreihe „Ge-Denken“, aber auch einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift. Dabei stehen durchaus auch brisante aktuelle Themen im Mittelpunkt, wie beispielsweise zuletzt die Situation der slowenischen Minderheit in Kärnten. Damit wollen wir einen Beitrag zu einer kritischen Gesellschaft leisten, die die Idee des „Lernens aus der Geschichte“ noch nicht aufgegeben hat, sondern mit tatsächlichem Engagement untermauert.

Eine Form dieses Engagements halten sie soeben in ihren Händen. Stefan Stoev hat mit dieser Publikation sein Ziel verwirklicht, interessierten Außenstehenden einen authentischen Einblick in die Arbeit der Gedenkdienstleistenden zu geben. Gleichzeitig ist es auch eine Einladung geworden sich auf eine Fahrt durch das Meer der Geschichten zu begeben und die hoffentlich von möglichst vielen LeserInnen angenommen wird.


I. Aller Anfang ist schwer oder Anlaufschwierigkeiten mit Happyend

Die Vorbereitungen für meinen Aufenthalt und Arbeitseinsatz in Washington waren alles andere als einfach. Ich war nicht nur Tag und Nacht damit beschäftigt, meine Wohnung in Wien aufzulösen und meine, sich über die Jahre zusammengestauten Sachen bei Freunden und Verwandten unterzubringen; nein, ich erfuhr am US-Konsulat auch völlig unerwartet, dass mein Antrag auf ein Visum abgelehnt worden war. Das traf mich wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Warum plötzlich abgelehnt? Eine Kooperation die über so viele Jahre reibungslos verlaufen war, stieß gerade jetzt auf eine bürokratische Hürde. Ich stand da wie im Regen ohne Schirm, alles andere hatte ich schon hinter mich gebracht: meinen Job gekündigt, meine Wohnung aufgelöst, in Washington eine Wohnung angemietet, mein Flugticket gekauft, und jetzt... Jetzt stand ich da, vor einem Dilemma und der alles entscheidenden Frage, wie es denn nun weitergehen soll.

Die Nerven, die ich bei der Klärung der Angelegenheit in den folgenden Tagen verlor, und die grauen Haare, die mir daraus wuchsen, sind zwar nicht mehr zu ersetzen, doch Ende gut, alles gut. Durch den großen persönlichen Einsatz und die sehr aktive Unterstützung seitens des GEDENKDIENSTES und des Museums in Washington, denen ich zu größtem Dank verpflichtet bin, erhielt ich dann letzten Endes doch ein Visum. Mein Kollege Dominik Aschauer, der seinen Dienst im Leo Baeck Institut in New York ableisten sollte, hatte weniger Glück, bekam dann jedoch die Möglichkeit, im Jewish Cultural Center in London seinen Dienst abzuleisten.

Durch all den organisatorischen Stress fiel das Abschiednehmen eher kurz aus. Meine Eltern gaben mir noch ein paar unerlässliche Ratschläge mit auf den Weg und meine Freunde versprachen mir zu schreiben. Jetzt aber los, Amerika, ich komme!

***

Die Anreise und der erste Eindruck

Ich konnte es kaum erwarten, meinen Dienst anzutreten. So legte ich meine Anreise auf den 22. Juni fest, also auf gute dreieinhalb Wochen vor meinem offiziellen Dienstantritt. Dadurch hatte ich genügend Zeit, um Organisatorisches zu erledigen.

Als ich am Washington Dulles International Airport (IAD) ankam, regnete es in Strömen. Ich nahm den Blue Van- Shuttlebus, der mich direkt zu der Adresse brachte, wo ich die nächsten vierzehn bzw. fünfzehn Monate verweilen sollte. Die Fahrt dauerte lang, und durch den starken Regen konnte man vom Bus aus nichts von der Stadt erkennen, um erste Eindrücke zu sammeln. Es war später Nachmittag, ich war vom langen Flug sehr müde, meine Augen waren von der künstlichen Belüftung im Flugzeug völlig trocken und rot, und ich hatte das Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Und doch war ich durch die Aufregung voller Energie. Nach fast zwei Stunden endlos erscheinender Fahrt teilte mir der Fahrer mit, dass wir angekommen wären. Ich schnappte meine Koffer, die kaum zu tragen und vollgestopft mit allen möglichen Sachen waren. Es waren jede Menge Dinge in diesen Koffern, die ich glaubte, für meinen einjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten zu brauchen. Da stand ich nun, auf einer schönen grünen Strasse, vor einem dreistöckigen Haus im viktorianischen Stil. Meine Freunde, die für mich die Wohnung organisiert hatten und im ersten Stock desselben Hauses wohnten, empfingen mich sehr herzlich. Sie gaben mir den Schlüssel für meine neue Wohnung und ich ging in das dritte und oberste Stockwerk hinauf. Als ich die Tür öffnete, fühlte ich mich in die Anfänge meiner Studienzeit zurückversetzt:

Die Wohnung glich einem kleinen Hotelzimmer, war mit einer winzigen Küche und einem Abstellraum ausgestattet, und bestand aus einem Badezimmer mit verrosteten Rohren und kaputter Toilette. Ich habe zwar viel investieren und renovieren müssen, um das Appartement angenehm sauber - ja sogar einigermaßen gemütlich - zu machen, doch das war wohl der Mindestaufwand, den ich betreiben musste, um mich in einer guten Wohngegend niederzulassen.

Mit der Zeit wurde mir auch eindeutig bewusst, in welch hervorragender Lage sich die Wohnung befand. Die kleine Wohnung an der Ecke Corcoran und 15. Strasse war nur ein paar Minuten vom berühmten Dupont Circle entfernt und lag ganz in der Nahe vom historischen Stadtteil Georgetown; das Weiße Haus war nur einige Blocks die Straße runter und das USHMM konnte man zu Fuß in weniger als einer halben Stunde erreichen.

Wie erwähnt, hatte ich mit der Wohnung großes Glück, denn es ist in Washington DC nicht nur schwierig, eine gute und zugleich günstige Wohnung zu finden, es ist außerdem auch sehr herausfordernd, den unzähligen Anforderungen nachzukommen, die man erfüllen muss, um überhaupt eine Wohnung mieten zu dürfen. Im Prinzip braucht man für alles, was meldepflichtig ist, wie z. B. die Wohnung, das Konto und das Telefon, eine Sozialversicherungsnummer, auf die wir mit unserem Status als österreichische Gedenkdiener nun mal keinen Anspruch haben. Dazu kommen noch Begriffe wie Bonitätshistorie, Miethistorie und, und, und...; Dinge, die nur Kopfschmerzen bereiten, denn jemand mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung kann dies alles nicht aufweisen. Die Wohnungssuche ist für die Gedenkdiener stets ein Abenteuer mit offenem Ausgang, und die steigenden Mietpreise machen dieses Abenteuer noch spannender.

 

 

II. Eine 360° Drehung durch das Museum

Schmetterlinge im Bauch zum Dienstantritt

Als ich mich auf dem Weg zum Museum machte, um mich meinen zukünftigen Kollegen vorzustellen, war ich sehr aufgeregt. Am Touristeneingang des beeindruckenden Gebäudes auf der 14. Strasse fand ich mich vor einer riesigen Schlange von Besuchern wieder. Es war heiß wie in der Wüste und schwül wie im Regenwald, mir wurde durch die Aufregung und das lange, angespannte

Warten leicht schwindlig. Die Kontrollen, die man beim Betreten des Museumskomplexes durchlaufen muss, erinnern an die Sicherheitskontrollen auf einem Flughafen. Die Größe des Museums hat meine Vorstellungen mehrfach übertroffen. Ich ging zum Aufzug, um ins fünfte Obergeschoss zur wissenschaftlichen Forschungsabteilung hinaufzufahren. Christoph holte mich vor dem Aufzug ab und führte mich in die Abteilung. Dort stellte er mich meinen Vorgesetzten und Kollegen Peter, Patricia, Severin und Anna vor. Anna war damals als freiwillige Assistentin in der Historikerabteilung tätig. Ich wurde von allen so warm und herzlich empfangen, dass mein Lampenfieber rasch verging. Peter nahm sich sofort die Zeit, um mich in die Organisation der Abteilung und meine Tätigkeit einzuführen. Er stellte mich auch den anderen Kollegen vor. Mein Arbeitsplatz war ein klassisches Cubicle, ausgestattet mit einem Schreibtisch, einem Computer und einer Schublade, wie man es aus den amerikanischen Filmen kennt.

Einmal bat ich Peter um ein kurzes Gespräch, um über die Zusammenarbeit mit dem Gedenkdienst und über seine persönliche Erfahrung mit den Gedenkdienern zu sprechen.

***

Gespräch mit Dr. Peter Black, Senior Historian

Direktor der historischen Forschungsabteilung am

United States Holocaust Memorial Museum in Washington

 

Peter USHMM

Im April 1993 öffnete das Holocaust-Museum in Washington erstmals seine Türen. Noch im selben Jahr begann die Kooperation mit dem Gedenkdienst, und gleich darauf trat der erste Gedenkdiener Anton Legerer seinen offiziellen Zivilersatzdienst in Washington an.

Heute, zwölf Jahre später, bin ich der elfte Gedenkdiener, der - wie alle seine Vorgänger - in der historischen Forschungsabteilung unter der Leitung von Dr. Peter Black arbeitet. Dr. Black ist seit 1997 für die Gedenkdiener im Museum verantwortlich. In einem gemeinsamen Gespräch erzählt er von seinen Erfahrungen und Freundschaften mit den Gedenkdienern:

„Ich habe als ersten Gedenkdiener Helmut Prochart kurz vor seiner Heimfahrt kennengelernt“, erinnert er sich. „Damals war unsere Abteilung noch sehr klein. Es gab noch keine internationalen Forschungsprojekte und auch nur wenige Angestellte in unserem Bereich. Das Zentrum für höhere Holocaustforschung (Center for Advanced Holocaust Studies) war noch nicht eingerichtet, und wir waren eine Mannschaft von wenigen Leuten. Der Gedenkdiener war deshalb ein wichtiges Teammitglied, sowohl bei wissenschaftlichen als auch bei administrativen und organisatorischen Arbeiten. Als Thomas Huber, im April 1998, seine Tätigkeit bei uns aufnahm, hatte er die gleichen Kernaufgaben, die für seine Nachfolger bis heute unverändert geblieben sind:

Er hat sich am Museum mit der Beantwortung von Anfragen und mit Forschungsaufgaben befasst. Daneben führte er die Besucher und Delegationen, die von der österreichischen Botschaft vermittelt wurden, durch die Ausstellungen. Darüber hinaus pflegte und intensivierte er die sozialen Kontakte zu österreichischen Zeitzeugen, die in die Vereinigten Staaten emigrierten und heute in der Umgebung Washingtons leben. Ein bedeutendes Projekt, bei dem er uns beispielsweise unterstützt hat, war die Verfassung der Bibliographie des Jüdischen Widerstandes. Thomas war der erste Gedenkdienstleistende, den ich während seines Dienstes von Beginn an betreute. Sein Nachfolger ab Mitte Juli 1999 war Roman Kopetzky. Er entwickelte sich zu unserer internen Computerfachkraft, denn er hatte zwar keine historischen Vorkenntnisse, war jedoch ein Experte im EDV-Bereich, wo er dann auch verstärkt zum Einsatz kam. Im Herbst 2000 kam dann Harald Schindler, der von Beruf Meteorologe war. Da ich damals keine administrative Unterstützung hatte, übernahm er diese Aufgabe und kam hervorragend damit zurecht. Als sein Dienst am 14. September 2001 endete, verzögerte sich seine Heimreise auf Grund des 11. Septembers. Sein Nachfolger war Roland Engel, der sich stark für die Angelegenheiten der Zeitzeugen engagierte. Der Schwerpunkt seiner Ausbildung lag im Personalwesen. Aus diesem Grund konnte er sehr gut mit anderen Menschen umgehen. Die Idee, seine Qualitäten gezielt einzusetzen, gab uns dann den Anstoß, die Gedenkdiener künftig auch in die Arbeit anderer Abteilungen zu involvieren. Auf Roland folgte Paul Schiefer, von Beruf Journalist. Durch seinen Beruf war er sehr gut organisiert und brachte den Fokus des Gedenkdienstes wieder zurück auf die Arbeit an der historischen Forschungsabteilung. Nach ihm kam dann dein Vorgänger Christoph Köttl. Er hatte ja Geschichte studiert und war in unserem Umfeld zu Hause. Er zeigte Begeisterung für die Militärgeschichte und leistete einen großen Beitrag bei der Forschung zum Thema KZ-Befreiung durch US-Militäreinheiten.

Deine eindeutige Stärke, Stefan, sind deine Sprachkenntnisse. Aus diesem Grund wurdest du auch in die Arbeit der Archivabteilung so intensiv eingebunden, wodurch du das Profil des Gedenkdieners um eine weitere Kompetenz erweitert hast.“

Im Laufe unseres Gesprächs musste ich daran denken, wie ich vor einem Jahr meinen Dienst antrat. Ich musste auch an die Vorbereitungszeit zurückdenken. Damals haben wir in einer großen Gruppe Studienreisen nach Theresienstadt und Auschwitz unternommen und zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Mein Nachfolger trifft bald ein, um hier in Washington meine Aufgaben zu übernehmen und fortzusetzen. Die Zeit ist schnell vergangen, doch die Erinnerung bleibt für das ganze Leben. Ich habe eingesehen, dass die Geschichte ein sehr dynamisches Thema ist, dessen Verständnis von der jeweiligen Generation abhängt. Deshalb empfinde ich es als wichtig, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, um diese besser zu verstehen und aus ihr für die Zukunft zu lernen.

Zum Abschluss unseres Gesprächs fügte Peter noch hinzu:

„Ich begrüße die positive Alternative zum Militärdienst durch die Ableistung eines Gedenkdienstes an einer Holocaustgedenkstätte. Deshalb bemühen wir uns auch bei den Aufgabenstellungen an die Gedenkdiener um eine gewisse Flexibilität, damit das Anforderungsprofil an die persönlichen Qualifikationen angepasst werden kann und keine Barriere für die Kandidaten darstellt. Wir begrüßen die Zusammenarbeit sehr und freuen uns auch weiterhin auf eine gute Kooperation.“


***

Das Holocaust-Museum wurde am 26. April 1993 eröffnet. Der erste offizielle Besucher war der Dalai Lama. Heute zählt das Museum über 22 Mio. Besucher aus aller Welt, darunter 7,5 Mio. Kinder und 2700 offizielle Delegierte aus 130 Ländern. Als ich das riesige Gebäude das erste Mal betrat und die Sicherheitskontrolle passierte, richtete sich mein Blick auf die vielen Fahnen der Befreiungsarmeen, die wie Soldaten in einer Reihe vor mir standen. Ich machte ein paar unsichere Schritte, umfangen von einem Gefühl der Desorientierung. Die massiven Stahlsäulen und protzigen Steinmauern übten eine besondere Kälte auf mich aus. Der Architekt James Ingo Freed wollte eine architektonische Beziehung zwischen dem Gebäude und den sich darin befindenden Ausstellungen schaffen. Im Jahr 1980 gab der Amerikanische Kongress dem USHMM den offiziellen Status einer permanenten Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts. Der Auftrag zur Errichtung des Museums - das zunächst als Denkmal vorgesehen war - wurde von Präsident Jimmy Carter gegeben.

Das USHMM befindet sich zwischen der 14. und 15. Strasse in der Nähe der Independence Avenue und ist von beiden Seiten zugänglich. Das Museum besteht aus zwei miteinander verbundenen Gebäuden. Aus der Vogelperspektive betrachtet, erinnern die spitzen Türme, die in zwei Viererreihen errichtet worden sind, an die Wachtürme eines KZ. Auf der Westseite am Eisenhower-Platz befindet sich das sechseckige Annexgebäude, dessen Dach die Form einer Pyramide hat. Darin befindet sich die Hall of Remembrance, das amerikanische Nationaldenkmal für die Holocaustopfer:

Im Inneren des Raumes sind auf Granitwänden die Namen der Konzentrations- und Vernichtungslager nachzulesen. Kerzenlichter erhellen den Raum von allen Seiten. Säulen aus Kalkstein bilden einen engeren Kreis um den Raum, in dessen Zentrum die ewige Gedenkflamme brennt. In die Kalkwände sind verschiedene Epitaphen eingemeißelt. Die Gedenkstätte ist von einer sechseckigen Glaspyramide in Form eines Wintersterns überdacht, durch die der Raum mit Sonnenlicht erfüllt wird.

In der Hall of Remembrance finden regelmäßig Feierlichkeiten und Ansprachen von bedeutenden Politikern aus aller Welt statt. Im Laufe meiner Dienstzeit durfte ich den Besuchen der Staatspräsidenten von Rumänien, Traian Basescu, und der Ukraine, Viktor Juschtschenko, beiwohnen.

Wenn man das Museum durch einen der beiden Eingänge betritt, befindet sich der Besucher zunächst in der Hall of Witness. Als erster Anlaufpunkt dient der Information Desk, an dem Auskünfte über die einzelnen Ausstellungen und das Umfeld des Museums gegeben werden:

Jeden Donnerstag hilft unsere Historikerabteilung am Informationsstand in der Hall of Witness aus. Mir bereitet diese Tätigkeit besondere Freude, denn dabei habe ich die Möglichkeit, mit Zeitzeugen, die als Freiwillige den Visitor Service-Bereich unterstützen, zusammenzuarbeiten. Hierbei lernt man Menschen aus aller Welt und aus den verschiedensten Kulturen kennen und wird dabei auch mit den eigenartigsten Fragen konfrontiert, auf die man zu Antworten wissen muss. Ich betrachte diese zwischenmenschliche Interaktion als eine große Bereicherung.

Auf derselben Ebene ist die Kinderausstellung Daniel’s Story: Diese versetzt die Besucher in die Rolle des achtjährigen Daniels, der gemeinsam mit seiner Familie die Härte und die Gräuel eines Arbeits- bzw. Konzentrationslagers erfährt, und aus seinem Tagebuch von den Ereignisse aus dieser Zeit berichtet.

Wenn sich der Besucher von der Hauptebene ins Untergeschoss des Museums begibt, kommt er zu den temporären Ausstellungen. Zur Zeit hat er dort die Möglichkeit, die Ausstellung Deadly Medicine zu besichtigen:

Darin wird das Thema Rassenpolitik mit Hilfe von Eugenik behandelt. Getrieben durch ihre rassistische Ideologie, wurde von deutschen Wissenschaftlern die Überlegenheit der Deutschen Rasse propagiert. Um das nationale Interesse zu wecken, bezeichneten Sie die Thematik der Bedrohung durch andere Rassen als eine Gefahr für die "Gesundheit" der Nation. Auf diesen Theorien baute die nazi-deutsche Regierung ihre politischen Maßnahmen auf. Teile des vorgeführten Filmmaterials erinnerten mich sehr stark an Kurt Gerons Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“.


***

Beitrag von Bruce Tapper, Senior Editor an der Publikationsabteilung am USHMM

Ich lernte Stefan zum ersten Mal kennen, als ich an dem Übersetzungsprojekt für den Museumsführer arbeitete. Dabei ging es darum, die englischsprachige Informationsbroschüre in neun weitere Sprachen zu übersetzen. Als Redakteur an der Publikationsabteilung des Museums nahm ich die Vorversion des deutschen Textes, die bei einer auswärtigen Übersetzungsagentur in Auftrag gegeben worden war, mit zur Einsicht. Unser Abteilungsleiter hatte daran einige Änderungen vorgeschlagen.

Dies war das erste Mal, dass eine Museumspublikation auf Deutsch herausgegeben wurde, und aus diesem Grund wollten wir auch jegliche Fehler vermeiden. Mir ging es darum, in allen Übersetzungen einheitliche Information zu vermitteln.

Stefan war gerade in Washington angekommen und wurde von seinem Vorgänger Christoph Köttl in seinen Tätigkeitsbereich eingeführt. Ich hielt es für eine gute Idee, zunächst von deutschen Muttersprachlern eine Meinung zur Übersetzung einzuholen.

Die Broschüre beschreibt die Aufgaben des Museums und gibt einen Überblick über dessen einzelne Ausstellungen und Einrichtungen. Beim Einblick in das englische Original schlugen Stefan und Christoph gemeinsam Änderungen an der deutschen Version vor. Später, nachdem diese Änderungen durchgeführt worden waren, überprüfte Stefan noch einmal die Wortstellung und bemerkte weitere grammatikalische Fehler.

Am Ende wurde das Dokument vom Abteilungsleiter genehmigt und der gedruckte Prospekt wurde bei unseren deutschsprachigen Besuchern sehr beliebt.

Nach dieser ersten Bekanntmachung und meinem ersten gemeinsamen Projekt mit Stefan schlossen wir Freundschaft und entdeckten gleichzeitig, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten, wie beispielsweise die Kunst, das Reisen und die Leidenschaft über verschiedene Kulturen zu lernen.

Neben meinem Abschluss als Journalist habe ich auch ein Doktorat in sozialer Anthropologie, mit dem Schwerpunkt Süd-Asien. Darüber hinaus habe ich in zahlreichen fremden Ländern gelebt. Ich komme an jedem Freitag ins CAHS zu einem informellen Yiddish-Studienkreis, und schaffte es, auch Stefans Interesse dafür zu wecken. Er nahm auch an einigen unserer Seminare, in denen wir holocaustbezogene Artikel lesen und übersetzen, teil.

Das Alphabet stellt sicherlich eine Herausforderung da, doch das Vokabular ist dem Deutschen sehr ähnlich. Stefan nahm sogar seinen Nachfolger Christian Url mit, der sich auch einigen unserer informellen Sitzungen anschloss.

Stefans Dienstzeit am USHMM ist sehr rasch vergangen, und nun kehrt er wieder zurück in seine Heimat Österreich. Ich weiß bereits heute, dass ich unsere Mittagsdiskussionen vermissen werde. Doch ich weiß auch, dass ich jetzt einen guten Freund in Wien habe.

***

Einblick in die Archivarbeit und Zusammenarbeit

Durch die Übersetzungstätigkeit habe ich an zahlreichen Dokumenten aus dem Museumsarchiv gearbeitet, die von der internationalen Archivabteilung (International Archival Programs Division - IAPD) zur Verfügung gestellt wurden. Die Aufgabe der IAPD ist es, die Beweismaterialien aus der Zeit des Holocaust zu aquirieren. Diese Materialen dienen der Holocaustforschung am Forschungszentrum des Museums - CAHS. Das Zentrum betreibt eine Reihe von Aquisitionsprogrammen, kooperiert mit über 50 Ländern weltweit und ergänzt dadurch den Archivbestand des Museums jährlich um zwei Millionen Seiten. Als Ergebnis dieser Programme entwickelte sich das Museum rasch zur weltgrößten und meist konsultierten Quelle für Holocaustdokumentation.

Über die Zusammenarbeit mit der IAPD lernte ich meine beiden Freunde Anatol und Vadim kennen:

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Bratushka Stefan

Beitrag von Vadim Altskan, über unsere Gespräche und die entstandene Freundschaft

Ich lernte Stefan im September 2004 kennen, ein paar Monate nachdem er seinen Dienst als Gedenkdienstleistender im Museum begonnen hatte. Es war uns vorausbestimmt gute Freunde zu werden, einerseits wegen unserer verwandten Herkunft (Bulgarischer und Russischer), aber vielmehr auf Grund unserer gemeinsamen Interessen in Geschichte, Kunst, Musik, Politik und Reisen.

Vadim USHMM

Im Museum beriet sich Stefan mit mir, wenn er an Russischen Dokumenten aus dem Archiv arbeitete, doch unsere Unterhaltungen erstreckten sich auch außerhalb der Arbeitszeiten. Wir haben Picknicks in den Dumbarton Oaks Gärten unternommen, wo Stefan gemeinsam mit meinem Sohn malte. Wir haben uns über verschiedene Kulturen unterhalten und uns Gedanken darüber gemacht, wie die Welt zu verbessern wäre. Ich besichtigte seine Bilderausstellung, an der St. Thomas Kirche, die er gemeinsam mit einem österreichischen Überlebenden organisiert hatte. Ja, Stefans Dienstzeit hat viele Erinnerungen zurückgelassen und wir werden ihn hier sehr vermissen. Doch ich habe ihm versprochen, dass wir uns wieder sehen werden und dieses Versprechen werde ich einhalten.

***

Anatol Steck ist gebürtiger Wiener und seit 1988 in Washington. Er hat an der Catholic University studiert, wo er 1995 ein B.A. in General Studies machte und danach einen Masters in Library and Information Science belegte.

„Während meines Studiums war ich vollzeitig als Archivar an der Charles Sumner School Museum and Archives - einem historischen Kulturzentrum, Museum und Archiv - in Washington beschäftigt”, erzählt Anatol über sein Leben und seine Arbeit.

„Ich wollte schon seit der Eröffnung 1993 für das United States Holocaust Memorial Museum arbeiten. Ich hatte das Glück, dass ich 1999 - kurz vor Abschluss meines Studiums - in der Bibliothek des Museums eingesetzt wurde. Diese zwei Jahre waren eine sehr lehrreiche Zeit.“

2001 wechselte Anatol in die internationale Archivabteilung. Dort ist er für die archivarischen Akquisitions- und Reproduktionsprojekte in Zusammenhang mit der Geschichte Österreichs, Israels und der Tschechischen Republik zuständig.

„Ein besonders nennenswertes, aktuelles Projekt - auch was den Gedenkdienst betrifft - ist die Erfassung und Mikroverfilmung des Archivmaterials der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG Wien) in unser Archiv. Dieses Projekt wird in Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde in Wien und den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem durchgeführt.”

Die holocaustrelevanten Bestände des Archivs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bestehen aus zwei Archivkomponenten:

Die erste Archivkomponente, die zirka 400.000 Seiten umfasst, wurde im Januar 2001 von einer Wohnung im 15. Wiener Gemeindebezirk in die Anlaufstelle es Internationalen Steering Committees, dem Komitee für jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich, überstellt. Dieses Archivmaterial, das durch die jahrzehntelange Lagerung in der Liegenschaft teilweise Wasserschäden aufweist und von Schimmel befallen ist, beinhaltet wichtige Namenskarteien und andere Informationsquellen zu jüdischen Opfern und Überlebenden des Holocaust in und aus Österreich.

Die zweite Archivkomponente besteht aus dem Jahrhunderte umfassenden Gesamtarchiv der IKG Wien, das nach dem Zweiten Weltkrieg von Wien nach Jerusalem - an die Central Archives for the History of the Jewish People - überstellt wurde. An die eine Million Seiten holocaustrelevanten Archivmaterials wurden durch Mitarbeiter der IKG Wien identifiziert und erfasst. Ein sehr wichtiger Teilbestand dieses Gesamtarchivs sind die so genannten „Auswanderungsfragebögen“. Jeder jüdische Haushaltsvorstand musste ab Mai 1938 einen detaillierten Fragebogen ausfüllen, um das Land verlassen und der nationalsozialistischen Verfolgung entkommen zu können.

Die Fragebögen wurden von den Nationalsozialisten für die systematische Vertreibung und Beraubung der österreichischen Juden und die Deportation der Zurückgebliebenen verwendet. Diese so genannten „Auswanderungsfragebögen“ bilden einen der umfangreichsten Bestände an Personendaten zu österreichischen Juden aus den Jahren 1938 und 1939.

Mit insgesamt 1,4 Millionen Seiten sind die holocaustrelevanten Archivbestände der IKG Wien somit eine der vollständigsten und umfangreichsten Informationsquellen einer jüdischen Gemeinde zur Zeit des Holocaust.

„Seit 2002 verfilmt die internationale Archivabteilung des United States Holocaust Memorial Museums in enger Zusammenarbeit mit der IKG Wien die Archivbestände Wiens. Seit 2004 wird dasselbe Projekt in Jerusalem umgesetzt. Die produzierten Filme werden ab Ende 2006 für Forscher zugänglich sein.”

Anatol USHMM

Über seine Erfahrung mit den Gedenkdienern ergänzt er:

„Mit den Gedenkdienstleistenden tausche ich gelegentlich Informationen aus. Ab und zu gehen wir gemeinsam essen, treffen uns bei privaten Veranstaltungen und auch bei offiziellen Anlässen auf der österreichischen Botschaft.”

 

 

***

Holocaust-Forschung als Beruf?

Beitrag von Jürgen Matthäus

„Sie sind Historiker am Holocaust-Museum in Washington? Da haben Sie ja einen Traumjob!“

„Was, das sind Ihre Arbeitsfelder? Wenn das mal gut geht ...“

Zwei Stimmen, die die Spannbreite der Reaktionen aus dem weiten Kollegenkreis wiedergeben, sobald ich erwähne, wo und woran ich arbeite.

Wie so oft liegt die Wahrheit auch hier irgendwo zwischen den Extremen. Fest steht, dass mir meine Zeit am USHMM einzigartige Erfahrungen mit Menschen, Archivmaterial und Forschungsthemen gebracht hat, die ich keinesfalls missen möchte.

Aber wie kam ich nach Washington?

Der Weg führte keineswegs direkt von der Ruhr-Universität-Bochum über Sydney in Australien nach Washington DC.

Auf der Ruhr-Universität promovierte ich bei Hans Mommsen, und zu meinem Einsatz in Australien kam ich durch meinen guten Freund Konrad Kwiet, der mir dort ein unwiderstehliches Angebot machte.

Kwiet ist einer der führenden Historiker der Holocaust-Forschung, der schon früh an zentralen Themenfeldern, wie deutsche Verfolgungspolitik im besetzten Europa, jüdischer Widerstand und die Motive der Täter, arbeitete.

Von der Freien Universität Berlin, an der er in den turbulenten Jahren der Studentenbewegung promovierte und habilitierte, zog es ihn Anfang der 70er-Jahre nach Australien, das seither seine Heimat ist. Ende der 80er-Jahre sorgten in den australischen Medien Berichte über Beteiligte an deutschen Kriegsverbrechen, die nach 1945 „down under“ untergetaucht waren, für Schlagzeilen. Eine eigens geschaffene Behörde, die Special Investigations Unit (SIU) des Attorney-General’s Department, sollte die Anschuldigungen untersuchen. Dies war aber ohne historische Expertise nicht machbar. Konrad Kwiet begleitete die Arbeit der SIU als Chief Historian bis zu ihrer Schließung 1992. Andere Historiker - wie Martin Dean, der ebenfalls am USHMM arbeitet, und ich - unterstützten ihn dabei. Anhand zahlreicher Quellen, die aus osteuropäischen Archiven stammten und erstmals für Forschungszwecke zugänglich waren, konnten wir untersuchen, wie der Holocaust nicht nur geplant, sondern auch in seiner ganzen Brutalität umgesetzt wurde.

Judenmord als Forschungsobjekt und weniger als Gegenstand institutionalisierten Gedenkens stand von Beginn an im Mittelpunkt meiner Arbeit am USHMM. Nachdem mich Konrad Kwiet meisterlich in das Thema eingeführt hatte, machte er mich Anfang 1994, nach Beendigung unserer gemeinsamen SIU-Ermittlungen, auf eine Annonce aufmerksam, in der das im Jahr zuvor eröffnete USHMM um Bewerbungen für sein neues Fellowship-Programm bat. Wer heute auf der Museumswebsite nach diesen Forschungsstipendien sucht, findet eine ganze Palette unterschiedlichster Programme. Damals gab es nur zwei: die Shapiro- und die Resnick-Fellowships.

Kandidaten für die Shapiro-Fellowships wurden und werden vom Academic Committee des USHMM auf Basis ihrer hervorragenden akademischen Leistungen ernannt; die Resnick-Fellowships dagegen richten sich an jüngere Wissenschaftler, die eher am Anfang ihrer Karriere stehen.

Meiner Bewerbung lagen Empfehlungsschreiben von Hans Mommsen und Konrad Kwiet bei, über den Erfolg befanden Raul Hilberg, Willard Fletcher und andere Mitglieder des Academic Committee. Ihnen habe ich zu verdanken, dass ich heute am Museum arbeite.

Als erster Fellow am USHMM war ich anfangs mindestens ebenso verwirrt wie die Museumsmitarbeiter, die sich meiner annahmen: Was tut eine gerade eröffnete und vom unerwarteten Publikumszuspruch überwältigte Institution mit jemandem, der zu einem historischen Thema forscht und mit der Entstehungsphase des Museums ebenso wenig vertraut ist wie mit der amerikanischen Kultur im Allgemeinen, und besonders der Washingtoner Variante?

Dass ausgerechnet der erste Fellow des damaligen Research Institutes aus Deutschland kam, war nie Gegenstand von Diskussionen. Die große Kollegialität und Wärme, mit der ich bei meiner Ankunft im August 1994 hier empfangen wurde, begleitet mich seither. Trotz vielerlei Veränderungen - an die Stelle des Research Institute trat Ende der 90er-Jahre das Center for Advanced Holocaust Studies; der Mitarbeiterstab ist expandiert und von den Museumsgründern sind einige nicht länger involviert - und trotz der Tatsache, dass es sich um eine Regierungsbehörde handelt, bleibt das Museum das, was man als „charmatische Institution“ bezeichnen kann: Die Mehrzahl derer, die hier arbeiten, tun dies, weil sie vom Sinn des Unternehmens überzeugt sind, sofern sie sich nicht sogar wünschen, aus der Einsicht in die Vergangenheit könnten Lehren für die Zukunft gezogen werden.

Seit meinen ersten Tagen am Museum konnte ich die Hingabe und Professionalität, die viele meiner Kolleginnen und Kollegen antreibt, bewundern. Zu den Menschen, denen ich verdanke, dass ich noch dabei bin, gehören Sybil Milton, verstorben im Sommer 2000, Brewster Chamberlin, Wesley Fisher, Radu Ioanid, Paul Shapiro und Michael Berenbaum. Daneben stehen all jene, die mir freundschaftlich verbunden sind. Für zahlreiche Kontakte innerhalb und außerhalb des Museums und eine andauernde Verlängerung meiner „learning curve“ sorgte die Beteiligung an Archiv-, Ausstellungs- und anderen Projekten.

Seit meiner Rückkehr aus Berlin, wo ich für das USHMM über vier Jahre für Akquisitionsprojekte aus einigen europäischen Ländern zuständig war, bin ich seit September 2004 für die hauseigenen Forschungsprojekte des Centers - in erster Linie die Camps & Ghettos-Enzyklopädie und eine vielbändige Quellenedition, über die sich mehr auf der Museumswebsite finden lässt - verantwortlich.

Wenn in der Überschrift die Berufsbezeichnung Holocaust-Forscher dennoch mit einem Fragezeichen steht, liegt dies nicht an der institutionellen Spannung zwischen Bürokratie und Wissenschaft oder an generellen Zweifeln über den Sinn derartiger Beschäftigung.

Wer sich die Archivbestände des Museums vor Augen hält, die Millionen von Dokumenten, Zehntausende von Photographien und Tausende von Zeitzeugenberichten umfassen, kann nicht übersehen, dass neben der Ausstellungsfunktion des Museums auch ein solides Fundament für kritische Forschung besteht.

Fragwürdig ist indes der Trend zur Spezialisierung, der selbst bei Holocaust-Experten bewirkt, dass ein Gesamtüberblick nicht mehr möglich ist. Dennoch scheint dieser Trend unvermeidlich zu sein.

Eine Institution wie das USHMM kann jedoch dazu beitragen, dass die Spezialisten unterschiedlicher Disziplinen miteinander reden und - soweit dies Sinn macht - gemeinsam arbeiten.

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Internationalität und Austausch in den Holocaust Studies

Beitrag von Dirk Rupnow

Orte und Institutionen haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Inhalte und Perspektiven wissenschaftlicher Arbeit von Historikern und Kulturwissenschaftlern. Wie viele andere Forschungsfelder haben auch die Holocaust Studies die Grenzen nationaler Wissenschaftsorganisation hinter sich gelassen und funktionieren in einem internationalen Zusammenhang. Während man jedoch immer noch selten Spezialisten für außereuropäische Geschichte an deutschen oder österreichischen Universitäten findet, sind andererseits an den US-amerikanischen Universitäten Themen europäischer Geschichte stark verankert. Im Hinblick auf den Charakter der USA als eines Einwanderungslandes mit vornehmlich europäischen Wurzeln und als einer Supermacht mit weltweiten Interessen kann dies natürlich kaum überraschen, dennoch läßt einen immer wieder die Qualität entsprechender Forschungseinrichtungen und Forschungen zu Themen, deren lokaler Schwerpunkt in großer Entfernung liegt, erstaunen. Aus europäischer Sicht scheinen für viele Wissenschaftsgebiete der Bezugs- und Orientierungspunkt die USA und die dortigen Universitäten und Forschungseinrichtungen zu sein. Dies beschränkt sich freilich nicht auf die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern gilt ebenso für die Natur- und Biowissenschaften.

Für die Erforschung des von Deutschen und Österreichern initiierten und mit ihren Komplizen im Namen der nationalsozialistischen Weltanschauung durchgeführten Massenmords an den europäischen Judenheiten während des Zweiten Weltkriegs, sind die USA geradezu zum bestimmenden Ort geworden und nicht Deutschland, Österreich oder ein anderes europäisches Land, in dem sich die Ereignisse zugetragen haben. Auch nicht Israel. Damit soll keineswegs der entscheidende Beitrag von Wissenschaftlern aus allen diesen Länder negiert werden. Vor allem auch deutsche Historiker der jüngeren, dritten Generation haben in den vergangenen Jahren wegweisende Arbeiten vorgelegt. Dennoch scheint der hohe Grad der Institutionalisierung und Professionalisierung der Holocaust Studies in den USA auffällig und bemerkenswert. Natürlich lassen sich auch dafür eine Vielzahl von historischen Gründen anführen: von der unmittelbaren Begegnung US-amerikanischer Soldaten mit den NS-Gewaltverbrechen bei der Befreiung von Lagern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über die Mitnahme von deutschen Akten als Beweismittel in die USA und die Durchführung der Kriegsverbrecherprozesse bis hin zu innen- und außenpolitischen Gründen in den 1980er und 1990er Jahren, die eine Einbindung des ›Holocaust‹ in die Konstruktion US-amerikanischer Erinnerung und Identität opportun erscheinen ließen.

Gerade das US Holocaust Memorial Museum in Washington, dessen Eröffnung an der National Mall im Jahr 1993 eben diese Integration markiert, hat mit seiner Architektur, seiner Dauerausstellung und seinen diversen Programmen und Projekten internationale Standards gesetzt. Seine Mischung aus Museum, Forschungszentrum, Archiv, Bibliothek und Lernort ist - abgesehen von Yad Vashem in Jerusalem - einzigartig und garantiert auf allen Feldern höchstes Niveau. Nicht zuletzt die sukzessive Sammlung der weltweit verstreuten, Holocaust-relevanten Akten auf Mikroformaten stellt einen äußerst ehrgeizigen, langwierigen, aber entscheidenden Schritt für Holocaust-Forscher in aller Welt dar - und macht das Museum, sein Archiv und seine Forschungsabteilung zu einem zentralen Ort der Holocaust Studies. Eine gewisse lokale Distanz zum Forschungsobjekt kann bekanntermaßen ja auch einen zusätzlichen Vorteil darstellen, falls eine örtliche Entfernung bei einem Ereignis wie dem „Holocaust“ überhaupt eine Bedeutung haben kann.

Dennoch bleibt es erstaunlich, dass es in Deutschland und Österreich nur wenige vergleichbare Orte gibt, die explizit der Erforschung und Darstellung der immerhin von Deutschen und Österreichern initiierten und unter Beteiligung kollaborierender Gruppen durchgeführten Massenverbrechen gewidmet sind. Neben dem Frankfurter Fritz Bauer-Institut, das Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit miteinander verbindet, und der Berliner Stiftung Topographie des Terrors, die Ausstellung und Forschung verbindet, stehen in Deutschland vor allem zeitgeschichtliche Forschungseinrichtungen, die aber in den vergangenen Jahren - wie die zeitgeschichtliche Forschung im Allgemeinen - ihren Schwerpunkt zunehmend auf die Nachkriegsgeschichte verschoben haben (Institut für Zeitgeschichte, München; Zentrum für zeithistorische Forschung, Potsdam). Dies entspricht zwar dem stetigen Voranschreiten des Zeithorizonts der Zeitgeschichte, der ihr per definitionem eingeschrieben ist, übersieht aber die weiterhin bestehende besondere Bedeutung der Ereignisse im Zusammenhang mit der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik für unsere Gegenwart, die trotz der generationellen Entwicklung und neuerer historischer Brüche (Auflösung der kommunistischen Systeme) unverändert gegeben ist. Allein ein Blick auf öffentliche Debatten und Diskurse, die sich entweder in kritischer Auseinandersetzung oder aber auch in Abwehr auf die NS-Zeit beziehen, lässt diese Tatsache sehr deutlich werden.

In Österreich, das nach dem „Anschluss“ 1938 im Deutschen Reich aufgegangen war, dessen Bürger aber danach als Deutsche an den NS-Verbrechen in vollem Umfang teilnahmen, stellt sich die Situation der Institutionalisierung noch schlechter dar: Neben den zeitgeschichtlichen Instituten und Lehrstühlen an den Universitäten findet sich nur das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands in Wien, das Archiv, Forschungszentrum und Ausstellung zu verbinden versucht und sich früh mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt hat, dabei aber zunächst vor allem - wie der Name schon sagt - den Blick auf Österreicher als Widerstandskämpfer gerichtet hatte, daneben allerdings auch als erste österreichische Institution Täterforschung betrieb.

Die Internationalität gerade der Erforschung des „Holocaust“ liegt natürlich auch in der räumlichen Ausdehnung der Ereignisse begründet und spiegelt nur die Tatsache, dass fast ganz Europa zum Schauplatz von Diskriminierung, Raub und Massenmord wurde und diejenigen, die rechtzeitig auswandern konnten oder überlebt haben, in alle Welt als Flüchtlinge verstreut wurden. Diese Internationalität in der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen ist aber auch die Kehrseite des globalen, alle angenommenen moralischen Schranken negierenden Anspruchs der rassistisch-antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus, die die damaligen deutschen Massenverbrechen zu einer ethischen Herausforderung in globaler Dimension werden lässt. Darum sind internationale Zusammenarbeit und Austausch heute auch so entscheidend.

Doch gerade von kulturwissenschaftlicher Seite ist in den letzten Jahren immer wieder betont worden, dass Geschichtsforschung und -schreibung keineswegs objektive, über der Geschichte stehende wissenschaftliche Tätigkeiten, sondern selbst historisch verortet und damit kontingent sind. Geschichte ist ein Konstrukt und die eigene Position in ihr bestimmt auch - zumindest in einem gewissen Maße - die jeweilige Perspektive auf sie. Das gleiche könnte man von der lokalen Positionierung behaupten. Und eben dies macht internationale Zusammenarbeit und Austausch auch so fruchtbar: Man wird an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert und gewinnt mit jedem Ortswechsel neue Einsichten. Die eigene Wahrnehmung verändert sich. Trotz vielfältiger Verknüpfungen, trotz internationaler Tagungen, trotz Austauschprogrammen und vor allem trotz eines internationalen Buchmarkts unterscheiden sich Themen, Diskussionen und Zugänge in verschiedenen Ländern mehr als man in Zeiten der Globalisierung annehmen möchte.

Nun könnte man freilich einwenden, dass Internationalität und Austausch/-fähigkeit ein essentieller Bestandteil von Wissenschaft, eine conditio sine qua non von Wissenschaftlichkeit sind und Wissenschaftler dementsprechend schon immer international gearbeitet haben, ihre Möglichkeiten in diese Richtung höchstens durch die zur jeweiligen Zeit gegebenen Kommunikations- und Transporttechniken eingeschränkt gewesen sind. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Internationalität und Zusammenarbeit keineswegs immer Selbstverständlichkeiten für die Zunft darstellten - ganz im Gegenteil. Darüber hinaus sind gerade Zeitgeschichte und jüdische Geschichte Wissenschaftsfelder, deren Status als äußerst prekär gelten muss, was aus der heutigen Perspektive leicht in Vergessenheit geraten kann, stehen Themen eben dieser Teilbereiche doch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und erfreuen sich großer Beliebtheit in Ausstellungen, Museen und den Medien. Sie erscheinen dadurch fest verankert, was sich bei einem genaueren Blick auf die akademische Landschaft allerdings als oberflächliche Täuschung erweist.

Der Historismus des 19. Jahrhunderts schied die Zeitgeschichte von vornherein aus dem Spektrum der Arbeitsfelder aus, unter Hinweis auf eine angeblich unbefriedigende Quellenlage und vor allem eine mangelnde Distanz zum Gegenstand der Untersuchung. Jüdische Kapitel kamen in den klassischen, politikgeschichtlich orientierten und national zugeschnittenen Geschichten auf Grund des Status als verstreut lebender Minderheit ohne Staat ebenfalls nicht vor. Der „Wissenschaft des Judentums“, die parallel zur Emanzipation von Wissenschaftlern jüdischer Identität initiiert wurde, blieb die Anerkennung an den Universitäten vorenthalten. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts bedeutete auch für Bildung und Wissenschaften die Nationalisierung, eine Situation die sich zum Ersten Weltkrieg hin stetig verschärfte. Internationalität war natürlich vorhanden, aber vor allem als Forum für die nationale Selbstdarstellung von Interesse, weitaus weniger als ein Raum für wissenschaftliche Zusammenarbeit.

Die Zeitgeschichtsforschung nahm einen ersten Aufschwung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, mit den Bemühungen deutscher Historiker zur Widerlegung der im Versailler Vertrag festgeschriebenen These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Kriegs. Zeitgeschichte war damit ein nationales Unternehmen, weit entfernt von einem kritischen Wissenschaftsverständnis, wie es uns heute - gerade für die Zeitgeschichte - selbstverständlich erscheint. Die Entwicklung der „Wissenschaft des Judentums“ in Deutschland, die sich in der Weimarer Republik zaghaft an den Universitäten zu etablieren begann, wurde jäh durch die nationalsozialistische Machtübernahme unterbrochen. Im „Dritten Reich“ gingen allerdings nicht-jüdische deutsche Wissenschaftler daran, eine antijüdische Wissenschaft zu konstituieren, die sich aus explizit antisemitischer Perspektive mit jüdischer Geschichte und Kultur beschäftigte. Auf Grund ihres Interesses an historischen Lösungsversuchen der antisemitisch konstruierten „Judenfrage“, als vorbildhaft verstanden, wurde von den Tätern eine Art affirmativer Antisemitismus- und Holocaustforschung ins Werk zu setzen versucht. Entsprechend der NS-Rassenlehre wurden jedoch nicht nur die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung biologisiert und rassisiert, sondern auch die Forschungspraxis selbst: Wissenschaftler, die der nationalsozialistischen Definition nach als jüdisch galten, waren von vornherein ausgeschlossen. Wurde dies schon durch die antijüdische Gesetzgebung und Verfolgungspolitik des NS-Systems gewährleistet, so wurde doch zusätzlich wissenschaftlich zu argumentieren versucht, dass sie nicht objektiv über die eigene Geschichte forschen könnten.

Nach dem Krieg, als die nationalsozialistischen Massenverbrechen zum Kristallisationspunkt einer neuen Zeitgeschichtsforschung wurden, wurden jüdische und nicht-deutsche Historiker, die sich früh mit umfangreichen wissenschaftlichen Darstellungen und Dokumentationen zu Wort meldeten, aus den einschlägigen Institutionen, der deutschen Öffentlichkeit und vom deutschen Buchmarkt fernzuhalten versucht. Internationale Zusammenarbeit, die uns heute selbstverständlich erscheint, hat sich auf diesen Forschungsfeldern erst langsam durchgesetzt. Themen jüdischer Geschichte - und damit auch der „Holocaust“ - blieben noch lange ghettoisiert.

Auch wenn die akademischen Landschaften immer noch weitgehend national strukturiert sind, stellen Zusammenarbeit und Austausch über die nationalen Grenzen hinweg heute nicht mehr nur ein luxuriöses Surplus für die Arbeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften dar. Es geht dabei auch nicht ausschließlich um die Gewinnung und Auswertung von Material in internationalen Archiven, wie es tatsächlich in den Holocaust Studies notwendig ist. Vielmehr ist internationale Zusammenarbeit, anders noch als in den Natur- und Biowissenschaften, von essentieller Bedeutung für die Geistes- und Kulturwissenschaften, um andere Zugänge, Perspektiven, Methoden und Themen kennenzulernen und dadurch die Kontingenz der eigenen Zugänge, Perspektiven, Methoden und Themenwahl nicht aus dem Blick zu verlieren. Obwohl durch die neuen Kommunikationstechniken der Globus zum Dorf geworden zu sein scheint, sind Ortswechsel und lokale Distanzen weiterhin unabdingbare Voraussetzungen dafür und zumindest immer ein Gewinn und Vorteil. Erfahrungen in unterschiedlichen Forschungsumgebungen sind zu Recht ein wichtiger Bestandteil der akademischen Arbeit. Allesamt zwingen sie zur Reflexion über die eigene Arbeit und Perspektive, ihre Implikationen, Abhängigkeiten, Begrenzungen und Blindstellen. Gerade darin besteht ihre besondere Herausforderung.

Wenn heute Nachkommen von Opfern und Tätern bei der Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus, seiner Enteignungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik zusammenarbeiten, so ist das keinesfalls so selbstverständlich, wie es uns gerne erscheint - vor allem, wenn wir an internationalen Konferenzen teilnehmen oder uns zu Forschungszwecken im Ausland aufhalten, vielleicht sogar an Institutionen, die vornehmlich der Einladung ausländischer/internationaler Wissenschaftler gewidmet sind. Internationaler Austausch und Zusammenarbeit über die historischen Grenzziehungen hinweg sind notwendig, um eben diese historischen Oppositionen, an deren Herstellung und Vermittlung die Geistes- und Kulturwissenschaften wesentlich beteiligt waren und die eben zu den Verbrechen, deren Untersuchung heute ihre besondere Herausforderung darstellt, geführt und sie überhaupt erst ermöglicht haben, zu überwinden - nicht in dem Sinne einer Einebnung und Homogenisierung, sondern einer Form der Selbstreflexion, die integraler und zentraler Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit ist und nicht nur als lästige Pflichtübung am Rande betrieben wird.

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Begegnungen mit Überlebenden aus einer anderen Perspektive

Beitrag von Betsy Anthony

Es fällt mir schwer, über meine Erfahrungen mit Gedenkdienstleistende zu sprechen bzw. darüber nachzudenken, ohne den Begriff „Familie“ im weitesten Sinne des Wortes, unerwähnt zu lassen. Dies liegt nicht nur daran, dass mein Mann ein ehemaliger Gedenkdienstleistender ist, oder dass ich eine Reihe von Holocaust-Überlebenden so zu sagen als Großeltern „adoptiert“ habe. Es liegt viel mehr daran, dass mein Gedenkdiener-Ehemann ebenfalls von meinen Holocaust-Überlebenden „adoptiert“ wurde. Sie sehen ihn als Mitglied der Familie.

Meine biologischen Großeltern starben noch, bevor ich alt genug war, sie als Menschen mit Erfahrung schätzen zu lernen. Als mir dies bewusst wurde, merkte ich erst, was mir dadurch entgangen war. Es war allerdings zu spät: Etwas Unersetzliches war bereits verloren gegangen. Ich suchte eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, wollte wissen, woher ich kam, aber sie alle starben relativ früh und ich hatte nie die Chance, sie etwas zu fragen, bzw. von ihnen zu lernen.

Doch zum Glück wurde ich von 72 jüdischen Holocaust-Überlebenden im USHMM adoptiert. Ich begann 1999 mit ihnen zu arbeiten, und kurz darauf waren wir wie eine Familie.

Roland und Betsy

Es spielte nie eine Rolle, dass ich keine Jüdin war, dies gab ihnen eher mehr Anlass, mir noch mehr zu erzählen. Es bereitete ihnen große Freude, mit mir gemeinsam den Sabbat oder das Passahfest zu feiern, und mir dabei geduldig jedes einzelne Gebet und Ritual manchmal öfter als einmal, zu erklären.

Sie zeigten mir, wie wir alle miteinander verbunden sind, und ihre Lebensgeschichten gaben meinem Leben neuen Inhalt und neue Struktur.

Ich nenne inzwischen sehr viele von ihnen „Oma“ und „Opa“ und ich sehe und fühle, dass wir uns alle sehr nahe stehen und eng verbunden sind.

Natürlich war meine Tätigkeit am USHMM viel mehr als nur einfach „Arbeit“. Wie ich bereits erwähnt habe, die Holocaust-Überlebenden wurden zu meiner Familie. Ich wollte mit ihnen zusammen sein, von ihnen lernen und an sie wie an meine Großeltern Fragen stellen.

Ich war in der glücklichen Lage, Programme, Gedenkfeiern und sogar Parties für sie veranstalten zu dürfen. Ich half ihnen, Orte zu finden, an denen sie ihre Geschichten mitteilen konnten, was für Holocaust-Überlebende von größter Bedeutung ist. Sie wollen uns allen mitteilen, was ihnen und den verlorenen Mitgliedern ihrer Familie zugestoßen ist. Sie tragen eine sehr schwere Last an Verantwortung und werden immer wieder mit Bildern aus der Vergangenheit gequält und erschüttert. Ich wollte ihnen zumindest ein bisschen dabei helfen, diese schwere Last zu tragen.

Bei ihrer Bereitschaft sich mit zu teilen, konnte ich auch beobachten, dass sehr viele Holocaust-Überlebende nach dem „Guten“ in dieser Welt Ausschau hielten. Viele hatten einen offenen Umgang und Geduld bei der Arbeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hintergrunds. Sie arbeiteten mit afro-amerikanischen Teenagern und Friedensgruppen, die israelische und palästinensische Jugendliche zusammenbrachten. Sie sprachen zu politischen Verantwortlichen, zu Pastoren und Priestern. Sie trafen sich sogar mit anderen Genozid-Opfern und tauschten sich mit diesen aus.

Eine Gruppe von Menschen, zu denen es für sie jedoch etwas schwieriger war und ist, engen Kontakt aufzubauen sind jedoch Österreicher und Deutsche. Dies hatte viele unterschiedliche Gründe. Einerseits scheuten viele den Kontakt, anderseits aber ist es oft auch nur ein Mangel an Gelegenheiten diese zu begegnen, denn es gibt wesentlich mehr amerikanische Familien und Schüler unter den Besuchern des Museums als deutschsprachige. Einige Deutsche und Österreicher kommen aber doch und manche Überlebende suchen den Kontakt zu Menschen aus dem Deutschland und dem Österreich von heute: Sie kehren in ihre Heimatstädte zurück und nehmen Einladungen der jeweiligen Regierungen an, die sie vor so vielen Jahren aus dem Land verjagten und vertrieben - oder gar noch Schlimmeres mit ihnen taten. Bei diesen Gelegenheiten und Einladungen dürfte es nicht zu sehr nahen Begegnungen gekommen sein, und ich habe mehrere Holocaust-Überlebende gesehen, die an Erinnerungen an diesen netten Österreicher hingen, den sie im Urlaub trafen, oder die aufmerksamen und zuvorkommenden deutschen SchülerInnen, deren Bekanntschaft sie bei Gedenkveranstaltungen und internationalen Programmen machten.

Dies sind bemerkenswert großzügige Aussagen nach solch oberflächlichen Treffen. Wenn aber die wenigen, wirklich wertvollen Gespräche stattfanden hatte ich meistens die Gelegenheit dabei zu sein und konnte dann einer wirklich bedeutungsvollen Begegnung beiwohnen. Zweifellos lernen junge Deutsche und Österreicher aus dem Kontakt mit Holocaust-Überlebenden sehr viel, aber ich weiß auch, dass solche Gespräche auch für die Holocaust-Überlebenden selbst von unschätzbarem Wert sind.

Mein Zugang zum Thema Holocaust Erinnerungsarbeit begann vor über 10 Jahren als Teil eines Austauschprogramms („the International Summer Program on the Holocaust“) in dem junge Amerikaner und Deutsche, die sich intensiv mit dem Holocaust und dessen Auswirkung in der heutigen Gesellschaft und ihren Familien auseinander setzten.

Ich bin Sozialarbeiterin und fand danach auch beruflich einen Weg, meine Kompetenzen dazu zu verwenden, Holocaust-Überlebende und deren Familien im Umgang mit ihrer schmerzvollen Vergangenheit zu unterstützen. Es war gewissermaßen unvermeidbar, dass sich diese beiden parallelen Interessen früher oder später überschnitten. Ich hatte diese besondere Tiefenwirksamkeit dieser speziellen Begegnungen bereits bei früheren Begegnungsprojekten erfahren und miterlebt, als die Enkelkinder von Nazis und Holocaustopfern einander trafen miteinander mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede entdeckten. Mein Interesse steigerte sich auch, als ich so viele Holocaust-Überlebende immer näher kennen lernte und mir bewusst wurde, dass auch sie den Wunsch nach Begegnung und Dialog hatten.

So schien es nur natürlich, dass, als ich einen dynamischen und enthusiastischen Gedenkdienstleistenden traf, ihn einzuladen um mit den Holocaust-Überlebenden über seine Arbeit und den Verein Gedenkdienst zu sprechen. Ich dachte, dass es nun für meine Großeltern Zeit war, ein Enkelkind eines Nazis zu treffen.

Was sich daraus entwickelte, ist eine sehr ungewöhnliche Geschichte.

Als Roland mit den Holocaust-Überlebenden über seine Arbeit für Gedenkdienst sprach und ihnen von seiner Familiengeschichte erzählte, hörten sie ihm gespannt und dankbar zu. Es schien, als hätten sie nur auf ein Eingeständnis gewartet, dass diese Dinge auch in Österreich passiert waren. Sie wollten es aus dem Mund eines Österreichers hören, dass sich diese Dinge ereignet hatten, und dass Österreicher sehr aktiv daran beteiligt gewesen waren. Natürlich wusste jeder, dass es stimmte, aber sie wollten es von jemandem hören, von dem sie annahmen, er würde diese Beteiligung leugnen. Diskussionen und Bilder über Haider und rechtsradikale Politik in Österreich waren 2001 noch frisch in ihren Köpfen und die Holocaust-Überlebenden dürften sich gefragt haben, ob sie das, was sie von einem Österreicher zu hören bekamen, ertragen konnten.

Als Roland die Arbeit von Gedenkdienst beschrieb, schienen sie diese Anerkennung zu erhalten. Er ging eigentlich noch einen Schritt weiter und erzählte von seiner Familiengeschichte und erklärte ehrlich seinen Blickwinkel, aus dem er diese Geschichte sah und erlebte.

Die meisten seiner Zuhörer waren bereit, sich anzuhören, was sein Großvater während der Zeit des Nationalsozialismus getan hatte, und schätzten auch Rolands Offenheit. Natürlich war er sich auch der Bilder bewusst, die seine Geschichte für Außenstehende mit sich brachte. Anfangs war er besorgt, dass sein stereotypes Aussehen, die hellblondes Haar und die graublauen Augen mehr ausdrücken würden als seine Worte. Er bemerkte, wenn einige Überlebende, die ihn das erste Mal sahen, bei seinem Anblick innehielt. Ich glaube, er war positiv überrascht, als er erfuhr, dass dies nur eine erste, emotionale Reaktion war.

Diese äußerst zuvorkommenden Menschen schienen offenbar tief in ihrem Inneren dafür zu kämpfen, dass ihr intellektuelles Verständnis die Oberhand gewinnen würde, aber es war keineswegs leicht für sie. Sie wussten ganz genau, dass man Menschen nicht nach ihrem Aussehen und ihrer Herkunft beurteilen sollte. Glücklicherweise nahm sich Roland viel Zeit, mit ihnen zu sprechen und sie genauer kennen zu lernen, und die Bande, die er zwischen ihm und den Holocaust-Überlebenden knüpfte und die Freundschaft, die im folgenden Jahr daraus entstand, waren stark und einzigartig.

Die Holocaust-Überlebenden schienen alle daran interessiert zu sein, auch privat mit Roland zusammenzukommen, mit ihm zu reden und einander an Geschichten teilhaben zu lassen. Sie suchten nicht nach Entschuldigungen, und er konnte diese nicht geben. Sie trafen sich auch nicht mit Roland, um auf einer kollektiven oder individuellen Ebene „zu vergeben“. Sie sahen sich nicht unbedingt als diejenigen, die zu vergeben hatten. Indem sich beide Seiten auf diese Weise akzeptierten, schritten sie aus verschiedenen Perspektiven auf diesem Weg der gemeinsamen Geschichte voran. Es waren keine gegensätzlichen Perspektiven - es waren wirklich gemeinsame.

Ich lernte Roland zur selben Zeit kennen wie meine „Großeltern“ und wir verliebten uns praktisch sofort ineinander, aber durch unsere Befürchtungen und Ängste darüber, wie man diese Neuigkeiten aufnehmen würde, hielten wir unsere Beziehung anfangs noch geheim. Wir hatten keine Angst davor, wie meine „Großeltern“ die Holocaust-Überlebenden, auf diese Nachricht reagieren würden, aber eine gewisse Besorgnis war trotzdem da. Wir wollten nicht missverstanden werden und auch nicht missverstehen.

Und genau zu diesem Zeitpunkt versuchten sie, uns miteinander zu verkuppeln!

Als 30-jährige Frau immer noch Singel zu sein, war für sie ein Rätsel.

„Sie ist hübsch ..., sie ist nett ..., warum ist sie nicht verheiratet?“

Wir haben endlose Gespräche darüber geführt, die Holocaust-Überlebenden standen mir als meine „Großeltern“ mit Rat und Weisheit zur Seite - manchmal vielleicht mit etwas antiquierter „Schtetl-Weisheit“ - aber nichtsdestotrotz mit tiefer Freundschaft und Fürsorge.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war ein Holocaust-Überlebender, der mir schlicht sagte:

„Betsy, ich kenne einen großartigen jungen Mann und ich finde, du solltest ihn auch näher kennen lernen.“

Unser erster „Verkuppler“ arbeitete mit Roland donnerstags als freiwilliger Mitarbeiter am Auskunftspult des Museums zusammen. An diesem Tag führten sie ihre Gespräche auf Deutsch, so dass Pete sein eingerostetes Deutsch verbessern konnte. Als mir dann noch eine weitere „Großmama“ erzählte, dass „ wenn sie nur 40 Jahre jünger wäre ...“, wusste ich, dass es nicht nur kein Problem darstellte, dass ihre „Enkeltochter“ mit einem Österreicher ausging, sie warteten geradezu darauf.

Bis heute glauben einige meiner „Großeltern“ immer noch, dass sie uns zusammengebracht haben. Vielleicht waren es nicht ihre Weisheiten und Ratschläge, die schlussendlich dazu führten, aber diese haben uns bestimmt bestärkt. Sie gaben uns zusätzlich noch ein unermessliches Maß an Liebe und Anerkennung, nach der wir uns tatsächlich auch sehnten. Erstaunlicherweise schien, als ob niemand stolzer und glücklicher darüber sein könnte, dass ihre „Adoptiv-Enkeltochter“ in einen Österreicher verliebt war, als diese 72 freiwilligen Großmütter und Großväter.

Die Holocaust-Überlebenden begleiteten uns durch die ganze erste Zeit unserer noch jungen Beziehung. An keinem anderen Arbeitsplatz als im USHMM wäre diese Form von Beziehung in diesem Kontext nicht nur stillschweigend geduldet, sondern auch noch bestärkt worden. Während seiner Dienstzeit in Washington, DC hatte Roland auch Kontakt zur dortigen Israelitischen Kultusgemeinde und dem jüdischen Theater. Er war gemeinsam mit zwei Holocaust-Überlebenden bei diversen Podiumsveranstaltungen und sie sprachen über ihre Interaktionen darüber, was es für ihn bedeutete, mit KZ-Überlebenden im offenen Dialog zusammenzusein. Und diese wiederum sprachen darüber, wie wichtig es einfach war, einen Österreicher zu treffen, der den Holocaust-Überlebenden sagte: „Ja, diese Dinge sind passiert, wir fühlen uns verantwortlich und so war der Umgang einer typisch österreichischen Familie mit diesem Thema.“

Auf unserer Hochzeit waren die Hälfte der Gäste Jüdinnen und Juden. Meine lebendigste Erinnerung habe ich an den Tanz der Hava Negila, um den mich „meine“ Überlebenden nachdrücklich gebeten hatten. Jede von ihnen wollte die Erste sein, die Roland in die Mitte des Kreises nahm, und bald befanden wir uns beide in der Mitte und tanzten mit unseren Holocaust-Überlebenden. Plötzlich wurden auch Stühle in die Mitte getragen, ein ungewöhnliches Bild, ausgerechnet eine nicht jüdischen Frau und ihr frisch angeheirateter österreichischer Ehemann wurden auf diesen hochgehoben und über den Schultern der Kinder von Holocaust-Überlebenden und jüdischen Freunden - ganz zu schweigen von den Schultern meiner katholischen und (und manchen leider auch oft erzkonservativen christlichen Verwandten ) getragen.

Ein jüdischer Freund gab uns ein Taschentuch und erklärte, was wir damit zu tun hätten, und „ ... mir keine Sorgen zu machen, sie lassen dich schon nicht fallen!“

Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, wie es ist, wortwörtlich auf den Schultern von Freunden getragen zu werden und sich im Kreis von Holocaust-Überlebenden zu befinden, die allesamt deine Hochzeit feiern.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass unser Beispiel ein sehr ungewöhnliches ist, aber es zeigt die verbindende Kraft dessen, was man durch einfaches Zusammenkommen, Zeitverbringen und Miteinanderreden am selben Ort erreichen kann.

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III. Die Gedenkdiener haben viele Freunde

Gedanken zum Weltfrieden - ein Dialog über Jugend und Politik mit Regina und Gene

Noch vor meinem Dienstantritt hat mich mein Vorgänger Christoph darauf angesprochen, dass uns Regina und Gene zu einem Wochenendausflug in ihr Haus im Shenandoah Valley, einladen möchten. So lernten wir uns zum ersten Mal kennen. Regina und Gene waren die ersten Freunde, die ich außerhalb des Museums kennengelernt habe...

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Regina Lowy Espenshade wurde 1943 in Providence als Tochter jüdischer Immigranten geboren. Ihre Eltern verloren alles, als sie vor dem Zweiten Weltkrieg Österreich verlassen mussten.

Regina wuchs in Olneyville, Providence, auf, machte 1964 ihren Abschluss in Politikwissenschaften und entwickelte sich zu einer internationalen Friedenserhalterin und Wahlbeobachterin. Obwohl sie schon seit vielen Jahren in Washington DC lebt, hat sie nie vergessen, wer sie ist und woher sie kommt. „Die Erinnerungen sind noch zu lebendig“ - hat sie mir oft erklärt.

Reginas Eltern hatten ein Geschäft in einer kleinen österreichischen Ortschaft im Burgenland, bis sie von den Nazis 1938 gezwungen wurden, Österreich zu verlassen. Als sie 1939 mit ihrer Tochter, Reginas Schwester, nach New York auswanderten, sprachen sie kein Wort Englisch und kannten niemanden. Da es in Providence bessere Chancen auf einen Job gab, zogen sie dorthin. Reginas Vater fand Arbeit in einer Schiffsfabrik und ihre Mutter nahm einen Job als Putzfrau im Rhode Island-Krankenhaus an.

Während ihrer gesamten Schullaufbahn in South Providence wurde sie von Lehrern und Freiwilligen im Nickerson Settlement House unterstützt, die größte Motivation erhielt sie aber von ihren Eltern:

„Meine Eltern waren müde, frustriert und sprachen kein Wort Englisch, als sie hier ankamen. Aber dennoch gaben sie mir das Gefühl, dass ich alles erreichen könnte, wenn ich es nur wollte.“

„Ich war seit meiner Schulzeit eine Idealistin.“ Sie bezeichnet sich auch selbst als „Troublemakerin“. Als Schülerin war sie in einem Diskussionsforum, als Studentin protestierte sie gegen den Vietnamkrieg und als Praktikantin war sie 1961, 1962 und 1963 in Washington DC.

„Ich war im August 1963 für den Marsch für die Bürgerrechte dort, als Martin Luther King Jr. seine berühmte Rede hielt. Ich nahm mir den Aufruf JFKs zu Herzen, nicht zu fragen, was dein Land für dich tun kann... Ich war so begeistert. Das waren damals aufregende Zeiten in Washington.“

Nachdem sie ihre Doktorarbeit über die politischen Maßnahmen zur Bildung des Ministeriums für sozialen Wohnungsbau und städtische Entwicklung, Department of Housing and Urban Development (HUD), geschrieben hatte, zog Regina nach Washington DC, um für das neue HUD zu arbeiten. „Es gab damals außergewöhnliche Chancen für mich.“, sagt Regina, die ihre ersten 8 Jahre bei HUD an Anti-Armutsprogrammen als kometenhaften Aufstieg bezeichnet. In den 70er Jahren widmete sie sich bei HUD dem städtischen Wiederaufbau, indem sie an der Wiederbelebung des Time Square in New York City und anderen Projekten arbeitete.

1980 ließ sie sich nach Israel versetzen, wo sie an dem Wiederaufbau Jerusalems mitarbeitete, Hebräisch lernte und in der ganzen Stadt Freunde gewann und wichtige Kontakte knüpfte. Als sie wieder in Washington war, halfen ihr diese Kontakte 1993 bei der Aufstellung einer Einsatzgruppe aus Amerikanern, Israelis und Palästinensern, die nach dem Friedensabkommen von Oslo in West Bank und im Gaza Häuser errichten sollte.

1994 verließ Regina HUD und widmete sich wieder ihren Studien. Sie studierte Politik des Mittleren Ostens, lernte Arabisch und erhielt 1996 von der John Hopkins University’s School of Advanced International Studies den Master’s of International Public Policy. Sie trat der Gruppe Peace Now bei und sah ihre Aufgabe darin, den Frieden zwischen Israel und Palästina zu fördern.

1999 erlebte Regina eine große Überraschung. Bei einem Besuch ihrer Schwester in der Heimatstadt ihrer Eltern in Österreich sah sie, dass das Wahrzeichen der Stadt, das Schloss, inzwischen der Sitz des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung war. Die Konvergenzen durch die Geschichte ihrer Familie und ihrer eigenen Ausbildung waren zu stark, als dass sie hätte widerstehen können: Regina schrieb sich in das Studienzentrum ein und machte dort die Ausbildung zur Friedenserhalterin, durch welche sie ihre heutige Tätigkeit als internationale Wahlbeobachterin ausüben kann.

Im Oktober 2003 war Regina Mitglied einer Gruppe von Wahlbeobachtern, die beauftragt wurde, die angeblich demokratischen Wahlen im einst kommunistischen Azerbaijan zu überwachen. Trotz durchsichtiger Wahlurnen und überwachter Stimmenauszählung blieben die Kommunisten an der Macht. Die Opposition sprach von Wahlbetrug. Regina und ihr Team verließen entmutigt das Land, waren aber auch voller Hoffnung, dass es nach ausreichend überwachten Wahlen vielleicht eines Tages auch wirklich demokratische Wahlen in Azerbaijan geben würde.

Während ihres Aufenthalts in Österreich nahm Regina die Gelegenheit wahr, ein Treffen aller Juden zu organisieren, deren Familien aus der Gegend stammten. Es war eine Chance für alle Nachkommen der einstigen Verbrecher und die Familien der Opfer, sich genau auf dem Land zu umarmen, auf dem sie einst friedlich nebeneinander lebten. „Es war ein außergewöhnliches Zusammentreffen und eine großartige Erfahrung. Ich lernte neue Bekannte aus der ganzen Welt kennen und Menschen, die auf der Hochzeit meiner Eltern waren (der letzten Hochzeit, die jemals in der Synagoge stattfand), und Leute, die sich noch an den Laden meines Großvaters und seine Gewohnheit, Süßigkeiten an Kinder zu verschenken, erinnerten.“

Mit demselben Elan plant Regina die Errichtung eines Lernzentrums, das der Genozidforschung und den Studien zur ethnischen Säuberung dient. Dieses Zentrum soll im selben Gebäude wie das Friedensinstitut untergebracht werden. Ich habe Regina versprochen, sie bei dieser außergewöhnlichen Initiative, soweit es mir möglich ist, zu unterstützen.

Darüber hinaus ist Regina in der Umgebung von Washington DC im Boys & Girls Club aktiv, indem sie dort beim Fundraising und Tutoring für ein neues Gebäude hilft.

„Ich mache das wegen der Unterstützung, die ich einst vom Nickerson House erhalten habe. Ich bin dazu verpflichtet. Das ist meine Chance, Dankbarkeit zu zeigen.

Ich bin sehr glücklich - meine Träume sind wahr geworden. Das ist das Schöne an diesem Land. Jemand kann mit Ideen und Einfallsreichtum hier herkommen und etwas verändern.“

***

...Der gemeinsame Ausflug nach Blue Ridge in Virginia war ein großartiges Erlebnis und eine sehr gute Gelegenheit, um die ländlichen Gegenden der USA zu erleben.

Wir sind über die Interstate Autobahn 66 in Richtung Süden gefahren und dann auf den von grünen Weiden umgebenen Bundesstraßen abgebogen. Nach mehreren Farmen fuhren wir auch an einer Handwerkerstätte von Amisch-Familien vorbei. Die Amisch-Kultur ist eine evangelische Freikirche, deren Mitglieder sich dem einfachen Leben gewidmet haben.

Das Country-Haus, das viele meiner Vorgänger kennen, liegt auf großer Höhe in einem Wald, von wo sich ein wunderschöner Blick auf das Tal öffnet. Reginas Freund Gene machte uns auf die vor dem Haus hinterlassenen Spuren von Bären und Rehen aufmerksam. Ja, diese Gegend war noch sehr unberührt und wir verbrachten ein angenehmes gemeinsames Wochenende. Für Christoph war dieser Ausflug ein gelungener Abschluss seiner Dienstzeit in Washington DC.

Mit Regina und Gene haben wir eine Reihe gemeinsamer Diskussionsthemen gefunden und während der vierzehn Monate auch sehr viel gemeinsam unternommen:

Da ich schon einige Wochen vor meinem offiziellen Dienstantritt in Washington anreiste, konnte ich den amerikanischen Nationalfeiertag auch im Jahr 2004 mitfeiern. Gemeinsam mit meinem Vorgänger Christoph wurden wir von Regina und Gene, ganz traditionell, auf eine Spareribs-Jambalaya-Gartenparty eingeladen. Dort lernten wir auch Reginas und Genes zahlreiche Freunde kennen, unter denen auch einige Zeitzeugen aus Italien waren, und eine Dame aus Österreich, die im Cafe Mozart in Washington Torten nach österreichischem Rezept zubereitet. Sie alle wollten selbstverständlich mehr über unsere Gedenkdienstarbeit erfahren und begrüßten diese österreichische Initiative.

Gene and Regina

Im Jahr darauf feierten wir zum zweiten Mal den Tag der amerikanischen Unabhängigkeit, mittlerweile traditionell bei Regina und Gene. An diesem Tag wurde auch mein Nachfolger Christian geboren, leider konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Washington sein, um mit uns mitzufeiern. Auf dem Weg zu Genes Haus, das auf der anderen Seite der Mall gelegen war, stieß ich auf ein kleines Abenteuer: Ich hatte neben den anderen Leckereien, die ich für diesen besonderen Anlass zubereitet hatte, auch zwei Flaschen Wein eingepackt und war zu Fuß unterwegs.

An der riesigen Mall war man seit dem frühen Nachmittag mit Sicherheitskontrollen für den großen Tag beschäftigt. Das bedeutete, dass jeder, der über die grüne Wiese der riesigen Parkanlage spazieren wollte, angehalten und auf den Inhalt seiner Taschen überprüft wurde. Als der Beamte einen Blick in meinen Rucksack warf, sagte er kopfschüttelnd: „Alkoholverbot“. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich die Mall nur überquerte und nicht vorhatte, in der Parkanlage zu bleiben und Alkohol zu trinken. Doch vergebens. Ich war gezwungen, die Flaschen entweder dort zurückzulassen oder umzukehren. Ich entschied mich für letzteres, denn ich wollte mir auf keinen Fall den Wein wegnehmen lassen. Ich fand die Alternative, eine Station mit der U-Bahn zu fahren, um auf die andere Seite der Stadt zu gelangen.

Reginas und Genes Gäste, die aus aller Welt gekommen waren, warteten schon alle auf mich. Ich hatte mich durch den Umweg zwar reichlich verspätet, den guten Tropfen hatte ich jedoch gerettet.

***

Thanksgiving entspricht unserem Erntedankfest und findet jedes Jahr am 4. Donnerstag im November statt. Thanksgiving ist einer der am breitesten gefeierten Familienfeste in den USA, dem Menschen aus den verschiedensten Religionen beiwohnen. An diesem Tag steht die Stadt still. Ich wurde von Regina und Gene eingeladen, und nachdem auch ich einige Häppchen für das Festmahl zubereitet hatte, begab ich mich auf den Weg. Ich ging über die 15. Straße zur Mall hinunter und entlang der Museen und Ministerien über die Independence Avenue entlang. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ich weit und breit der einzige Fußgänger war. Die Stadt war wie leergefegt.

Es war später Nachmittag und jeder Bürger schien schon seinen Platz am Festtagstisch eingenommen zu haben. Ich ging am neuen American Indian Museum vorbei und bog am Verwaltungsgebäude der Voice of America in Richtung Süd-Osten ab.

Am 21. Januar wurde ich hier zu einem Interview eingeladen, um über meine Tätigkeit und über das Österreich von heute zu sprechen. Das Gespräch, das im Tonstudio beinahe eine Dreiviertelstunde dauerte, wurde von der Journalistin Zlatica S. Hoke zusammengefasst:

Der siebenundzwanzig Jährige Betriebswirt, Stefan Stoev, ist zu Zeit als Zivildiener am Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. tätig. Eine seiner Aufgaben ist die Kontaktaufnahme zu österreichischen Holocaustüberlebenden und Juden die aus Nazi Österreich flüchteten. Die einen empfingen ihm offenherzig, sagt er, andere wiederum zeigten ihm die kalte Schulter.

"Ich habe mich mit vielen von ihnen getroffen und sie alle haben verschiedene Ansichten auf Österreich von heute. Sie sind ehemalige Österreicher und die Vergangenheit die sie mit Österreich verbinden ist, wie Sie sich vorstellen können, sehr bitter."

Nun, ist es Herrn Stoevs Ziel diese Menschen davon zu überzeugen, dass sein Land nicht das selbe ist, von dem sie vor 50 oder 60 Jahren geflüchtet sind. Sowie viele andere Österreicher glaubt Stefan Stoev, dass er es schaffen kann.

Als ich mich schließlich in der Wohngegend befand, kam mir aus sämtlichen Häusern der Umgebung das verführerische Aroma des traditionellen gebratenen Truthahns entgegen.

Als ich endlich angekommen war, öffnete mir Gene die Tür und hinter ihm sah ich ihn auch schon: den reichlich gedeckten Tisch mit den unzähligen Köstlichkeiten darauf, die alle Freunde und Bekannten liebevoll für das Fest zubereitet hatten.

An diesem Tag feiern alle Menschen in Amerika, unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Kultur.

„Thanksgiving und der 4. Juli haben Bedeutung für uns alle“, erklärte mir Genes Nachbarin Dabby. Und tatsächlich saßen an unserem Tisch Menschen aus den verschiedensten Ecken der Welt zusammen: eine Familie aus Mexiko, eine aus Argentinien, Katie und ihr Freund aus Peru, drei amerikanische Familien aus der Nachbarschaft, zwei Schwestern aus Palästina, eine Freundin aus Israel, und ich als Repräsentant Österreichs. Während wir all diese leckeren Gerichte genossen, diskutierten wir in Vertretung unserer jeweiligen Kultur über soziale und politische Themen. Es war ein sehr interessanter Abend.

***

„Ich hab’ ihn gesehen, den Hitler, als er in Wien einmarschiert is’“

Zeitzeugengespräch mit Hedi Pope

Hedi Pope ist seit 1993 als freiwillige Mitarbeiterin im Holocaust Memorial Museum in Washington tätig. Jeden Freitag arbeitet sie dort am Information Desk.

Als ich einmal an diesem Auskunftspult mit einem Besucher deutsch gesprochen habe, beteiligte sich plötzlich eine Dame im Hintergrund an unserem Gespräch. Auf diese Weise machte ich Hedis Bekanntschaft.

Sie ging auf mich zu und sagte: „Ich hab ihn gesehen, den Hitler, als er in Wien einmarschiert is’.“ Wir unterhielten uns kurz über Österreich, ihre Heimat Wien und das Projekt GEDENKDIENST.

Als ich sie an einem anderen Tag wiedersah, vereinbarten wir, uns für ein gemeinsames Gespräch zu treffen.

Hedi Pope, geborene Politzer, wurde am 18. März 1920 geboren. Sie lebte mit ihrer Familie in Wien VII, Stiftgasse 6, und ging in der Langegasse ins Gymnasium, wo sie im Juni 1938 maturierte. Nach dem Einmarsch Hitlers beschlossen ihre Eltern, dass Hedi und ihre Schwester zu ihren Verwandten in die USA ausreisen sollten. Zu dieser Zeit hatte man als Österreicher noch keine Probleme, ein Visum zu bekommen. Die USA wiesen Immigranten Quota-Nummern zu und forderten zur Einwanderung Affidavits.

„Die Kinder sollen gehen, wir bleiben da“

Am 11. Januar 1939 verließen Hedi und ihre Schwester Wien.

Sie hatten einen Pass, und versuchten nun, in die USA auszureisen. Ihre Eltern blieben vorübergehend in Österreich zurück.

Hedi und ihre Schwester kamen am 27. Januar 1939 an Bord der Veendam in New York City an. Sie zogen zunächst zu ihren Cousinen nach New Jersey, danach ging’s für Hedi weiter nach New York.

„Ich wollte gleich nach New York, denn das war besser, alle versuchten damals, so schnell wie möglich nach New York zu gehen.“

„Es wird schon nix passieren“

Hedis Mutter, Mitzi Politzer, blieb in ihrer Wohnung in der Stiftgasse.

„Arme Mutter. Es war damals so, dass man die Zimmer einer Wohnung ausfüllen musste. Sobald ein Zimmer frei war, rissen es sich die Nazis unter den Nagel und die gesamte Familie musste das Haus verlassen.“ So zogen ihre Schwester und ihr Schwager zu ihr in den 7. Bezirk. Alle drei reisten später gemeinsam in die USA aus.

Hedis Vater, Oskar Politzer, wurde in der Reichskristallnacht festgenommen und nach Dachau gebracht. Dort erkrankte er schwer und starb im Januar 1939, während seine beiden Töchter auf dem Weg nach New York waren. Seine Korrespondenz aus diesen sechs Wochen in Dachau ist im Besitz des Holocaust-Museums.

Hedis Eltern und Großeltern waren jüdisch, Hedi selbst ist keine praktizierende Jüdin. Ihre Großeltern waren Geschäftsleute in Wien. Ihre Großeltern mütterlicherseits führten auf der Kärtnerstraße unter dem Namen C.H. Berger das Geschäft Die englische Flotte. Der Großvater väterlicherseits, Ludwig Politzer, hatte eine Gold- und Silberwarenfabrik in der Pagagenogasse 4 im 6. Wiener Gemeindebezirk.

„I can dance and speak“

Hedi hatte seit ihrem fünften Lebensjahr bei Marie Trimmel, „Frau Luca“, Elinor Tordis, Hedy Pfundmayr und Grete Wiesenthal Tanzunterricht genommen. Pfundmayr choreographierte damals im Burgtheater neben Weihnachtsproduktionen für Kinder auch Tänze für Shakespeare-Stücke und Werke Raimunds und Molières. Hedi hatte bereits in Wien unter der Regie von Walter Reisch mit Pfundmayr im Film Silhouetten und in Otto Werbergs Tanzbrettl mitgewirkt. Kurz vor ihrer Ankunft in New York waren auch die ehemaligen Mitglieder des Kabaretts Literatur am Naschmarkt in die USA immigriert und hatten sich am Broadway niedergelassen. Auf Empfehlung von Andreas Singer, der Pfundmayrs Pianist war, wurde sie von Herbert Berghof, dem Direktor der Gruppe, eingeladen, vorzutanzen und vorzusprechen. Dort bewarb sie sich mit den Worten: „I can dance and speak.“

„Ich musste noch ein bissl meine Aussprache verbessern und wurde schlussendlich angeheuert.“

Das Kabarett wurde vom The Refugee Artists Group unterstützt und bestand auch aus Mitgliedern der amerikanischen Theater- und Musikwelt. Man versuchte tatkräftig, am Broadway die Eröffnung des Musicals From Vienna umzusetzen. Das Material dafür stammte größtenteils aus übersetzten Skizzen, nach denen das Stück auf der Kleinkunstbühne in Wien erfolgreich aufgeführt worden war.

„Während der Probewochen verdienten wir 15 Dollar pro Woche, was durchaus zum Leben reichte. Nach der Premiere am 20. Juni 1939 erhielten wir alle 40 Dollar als Gehalt. Die Kritiken waren sehr gut, und wir waren überglücklich, wieder auf einer Bühne stehen zu dürfen ...

Die politische Lage in Europa wurde aber immer drohender, und mit dem Anfang des Krieges am 1. September 1939 kam das Ende des Musicals From Vienna im Music Box Theater am Broadway.“

Eine Rückkehr nach Europa war danach für Hedi zu gefährlich, so bewarb sie sich mithilfe des International Student Service um ein College-Stipendium.

„Im August erhielt ich einen Brief von der Miami University in Oxford, Ohio, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich ein Stipendium erhalten hätte. Ich habe dort drei sehr erfolgreiche Jahre verbracht und erwarb im Juni 1942 meinen Abschluss als Bachelor of Science. Ich machte dann noch auf dem Wellesley-College in Massachusetts meinen Masters. Mein Hauptfach war Physical Education, Modern Dance und Gymnastik. Danach habe ich drei Jahre auf dem Converse College in South Carolina Modern Dance und einige Sportfächer unterrichtet und machte Choreographien für verschiedenste Veranstaltungen, wie zum Beispiel MayDay, eine Veranstaltung für die ganze Stadt und Umgebung.“

Im Juni 1946 heiratete Hedi ihren Mann William C., der im Krieg im Südpazifik gegen die japanischen Truppen gekämpft hatte. Seit dieser Zeit leben die beiden in der Nähe von Washington, haben zwei erwachsene Kinder und ein Enkelkind. 1958 besuchten Hedi und ihre Familie erstmals wieder Österreich. Es ist aber nicht bei diesem einen Besuch geblieben, denn seither haben sie neben anderen Ländern auch ihre alte Heimat viele Male besucht.

Von 1947 bis 1980 führte Hedi Pope The Dance Studio in Alexandria, Virginia, wo jährlich durchschnittlich 250 Schüler aller Altersgruppen unterrichtet wurden.

1983 erhielt sie in Anerkennung ihrer Arbeit den Preis für Outstanding Achievement in the Cultural Affairs and the Arts.

Im Mai 2002 wurde Hedi auf Initiative der Tanz- und Theaterhistorikerin Dr. Andrea Amort und Dr. George Jackson in die Alte Schmiede eingeladen, um dort im Rahmen des Projekts „Exil und Wiederkehr“ über ihr Tanzstudium in den 20er und 30er Jahren und die Fortsetzung ihres Berufs in den Staaten zu sprechen. Da Hedi die Tanzkunst in beiden Welten mitverfolgt und gelebt hatte, stieß dieser Vortrag über ihre Erfahrungen und Erinnerungen auf ganz besonderes Interesse.

Im Juni 2002 veranstaltete Dr. Ursula Seeber, Direktorin der Exilbibliothek, eine Ausstellung zur Erinnerung an Schauspieler, Musiker, Tänzer und Kabarettkünstler, die nach dem März 1938 nach Amerika emigrierten. Bei dieser Gelegenheit hielt Hedi eine kurze Rede. Regina Thumser und Christian Kloesch schrieben über diese Ausstellung das Buch „From Vienna“.

Einige von Hedis alten Kabarett- und Schauspielkollegen schafften auch den ganz großen Durchbruch. Walter Reisch wurde als Drehbuchautor in Hollywood erfolgreich; Fred Hennings als Kammerschauspieler, Kunst- und Kulturhistoriker; John Banner ging zum Film und wurde als Feldwebel Schultz in der Serie Hogan’s Heroes berühmt; und Elisabeth Neumann machte als Fräulein Schneider in Cabaret Karriere.

„Ich hab’ ja keine Häftlingsnummer am Arm“

Als ich mich am Schluss für das Gespräch bedankte, meinte Hedi nur abwegig:

„Schön, dass du die Gelegenheit wahrnimmst, uns noch viele Dinge zu fragen, solange wir noch alle hier sind und diese Dinge erzählen können. Ich weiß auch gar nicht, warum du mich überhaupt gefragt hast. Meine Geschichte ist ja nicht so aufregend. Ich hab’ ja keine Häftlingsnummer am Arm, man hat uns ja NUR aus unserer Heimat hinausgeworfen.“

Dieser letzte Satz löste bei mir plötzlich eine Frage aus:

Was ist eigentlich ein Zeitzeuge? Wie leichtfertig wir doch diesen Begriff verwenden, ohne wirklich dessen Inhalt bzw. dessen Definition zu hinterfragen. Hätte ich nicht dasselbe Gespräch auch mit meiner Großmutter führen können? Verstehen wir unter einem Zeitzeugen wirklich nur das, was uns der Begriff sagt, nämlich den Zeugen einer bestimmten Zeit? Oder muss dieser Mensch für uns nicht doch gewisse Kriterien erfüllen, um für uns zum Zeitzeugen zu werden, wie z. B. die Anforderung einer schrecklich interessanten, möglichst grauenhaften Geschichte oder einer tätowierten Nummer? Hat die Frage überhaupt Berechtigung?

Ich weiß noch gut, dass mich diese Frage nach diesem Gespräch nicht zum ersten Mal beschäftigt hat.

***

Das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs - Das Lebenswerk von Robert Bauer

Zu Tee bei Maria Bauer

Die interessante Geschichte beginnt mit einem Leserbrief und Einladung zum Tee bei Frau Maria Bauer.

Bei der Aussendung der der Gedenkdienstzeitung legte ich einen Brief bei, um mich einerseits bei den Lesern vorzustellen und ihnen dabei die Möglichkeit zu geben, um jemandem innerhalb der USA zurückschreiben zu können. Unter den vielen Lesebriefen war auch der von Frau Bauer. Meine Vorgänger hatte sie nicht gekannt. Sie lud mich zum Tee ein und so kamen wir dann zum ersten Mal zusammen.

Dieses Treffen erwies sich als eine Reise durch Raum und Zeit. Frau Bauer erzählte mir über die Umstände und schicksalhaften Ereignisse im Zusammenhang mit der Flucht aus Österreich, über die lange Fahrt nach Amerika und über die Zeit nach dem Krieg und die diplomatische Karriere von Robert Bauer.

Nach meiner Rückkehr nach Österreich habe ich Frau Bauer angeschrieben, um sie über mein Buchvorhaben zu informieren. Sie hat die Idee sehr begrüsst und mir folgendes zu zurückgeschrieben:

„Lieber Herr Stoev,

Ich glaube wie Sie hier waren war ich schon mit der Katalisierung der Schriften meines Mannes um die mich die Eisenhower Presidential Library bat beschäftigt. Bevor ich noch damit fertig war, wurde ein Voice of America Museum in Cincinnati gegründet und ich bekam dasselbe Ansuchen dem Museum Dokumente meines Mannes zu senden, da er vor Pearl Harbor an der Station WLWO in Cincinnati die ersten Kurzwellensendungen in deutscher Sprache sandte. Bei Ausbruch des Krieges übernahm die Regierung die Sender der Station und das war der Anfang der Voice of America. So stehen jetzt die historischen Fakten der Karriere meines Mannes Historikern und Autoren zur Verfügung.

Die privaten Details unserer Jugend, unserer Flucht und Emigration sind in meinem Buch "Beyond the Chestnut Trees" beschrieben, welches Sie vielleicht schon von Herrn Url erhalten haben. Es wurde im Jahre l984 veröffentlicht und daher ist Robert Bauer's späteres Leben, seine Tätigkeit in der Stimme Amerika's und seine Jahre als amerikanischer Diplomat (in Iran, Paris, Kairo und New Delhi) kaum erwähnt. (Das Buch ist noch immer in Buchhandlungen hier und am Internet zu haben.)

Nachdem er in den Ruhestand trat begann er eine neue Karriere als Universitätsprofessor in Kenyon College, Ohio und an der American University in Washington. In der Zeit veröffentlichte er "The Austrian Solution", "The Interaction of Economics and Foreign Policy" und "The United States in World Affairs." Der Verleger der 3 Antologien war die University Press of Virginia. Er begann auch seine Autobiographie zu schreiben, die er "Nine Rivers - A Political Autobiography" nannte, nie beendete aber eine Zusammenfassung hinterließ, in der er kurz seine politischen Aktivitäten in den Ländern in denen er nach seiner Emigration lebte, erwähnt.

Am 9. September 1976 beurkundigte die Präsidentschaftskanzlei, dass der Bundespräsident der Republik Österreich mit Entschließung vom 5. Feber Herrn Professor Robert Bauer, das große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen hat und am 22. September verlieh ihm der Bundespräsident das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs.

Ich habe keine Ahnung welches und wieviel Material sie verwenden möchten. Sollten Sie sich für Weiteres interessieren, wobei ich Ihn helfen könnte, bitte schreiben Sie es mir. Am 24 Mai werde ich nach Europa reisen und ab 6. Juni wieder in Washington sein.

Viel Glück mit Ihrer interessanten Arbeit und ich werde mich freuen wieder von Ihnen zu hören.

Mit herzlichen Grüßen

Maria Bauer“

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Zu Besuch bei Melita Rodeck

„Ich kenne alle deine Vorgänger“, sagte Frau Rodeck zu mir, als ich ihr vorgestellt wurde. Vor über zehn Jahren erfuhr die Österreichemigrantin erstmals vom Projekt Gedenkdienst. Aus dieser Bekanntschaft hat sich nun eine langjährige Freundschaft entwickelt. Die 91jährige Melita, die vor zwei Jahren ihr Haus in Foggy Bottom aufgab und heute zurückgezogen im Saint Thomas Altenheim lebt, freut sich stets über den Besuch ihrer Freunde vom Gedenkdienst. Die Gedenkdiener unterstützen sie bei der Erledigung aller Notwendigkeiten, von Lebensmitteleinkäufen bis hin zu bürokratischen Angelegenheiten. Einmal, nachdem ich vom Lebensmittelladen zu ihr kam, und ihr Brot, Milch und ihre Lieblings-Muffins brachte, nahm sie mich bei der Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Was würde ich nur ohne euch machen.“.

Melita Rodeck immigrierte 1939 nach New York. Zuvor hatte sie am polytechnischen Institut der Technischen Universität Wien studiert, konnte ihr Studium jedoch nicht abschließen. In New York arbeitete sie zunächst als Freiwillige in der Armengegend von Harlem.

Vier Jahre später zog sie nach Washington DC, um für die Verwaltung der amerikanischen Regierung zu arbeiten. Nach Abschluss der Lizenzprüfung zur Architektin begann sie als selbstständige Unternehmerin mit Architekturbüros zusammenzuarbeiten, bis sie schließlich 1958 ihre eigenes Büro eröffnete.

Melita Rodeck

Nun blickt Melita Rodeck auf sechs Jahrzehnte als erfolgreiche Architektin für die Regierung der Vereinigten Staaten zurück.

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‚Wir fangen besser an zu packen’

Zeitzeugengespräch mit dem ehemaligen Wiener Medizinstudenten Charles Stein

Charles Stein arbeitet seit vielen Jahren als freiwilliger Mitarbeiter am Holocaust-Museum in Washington. Durch meine liebe Bekannte und Freundin Hedi Pope hatte ich die Ehre, seine Bekanntschaft zu machen und wurde auch gleich von ihm zu einem Gespräch eingeladen. Hier ist seine Geschichte:

Charles befindet sich gerade im zweiten Semester seines Medizinstudiums in Wien, als er dieses am 11. März 1938 abrupt abbrechen muss.

Während einer Vorlesung am Institut bemerkt er bereits, dass im Land eine Veränderung vor sich geht: Die Hörsäle sind voller Studenten, die Nazischleifen tragen, und einige von ihnen haben sogar Waffen bei sich.

Nach der Vorlesung muss Charles mit ansehen, wie ein schreiender Mob von Nazis einen jungen Mann durch die Straßen hetzt, der sich schließlich in einen Keller in der Nähe des Instituts retten kann.

Charles ist auch dabei, als Hitler in Österreich einmarschiert:

„Meine Eltern warnten mich noch inständig: ‚Geh nicht hin!’ Ich sah, wie die jubelnde Menge ihrem Führer ‚Sieg Heil!’ zuschrie. Daraufhin bin ich sofort zu meiner Familie zurück und teilte allen mit: ‚Wir fangen besser an zu packen!’

Wir trafen uns in den Straßen zum Informationsaustausch. Dort war man am sichersten. Einmal traf ich mich mit einem Freund Ende Juli 1938 in der Kärtnerstraße. Angeblich wurde bereits nach ihm gesucht. Er erzählte mir von der Möglichkeit eines ‚stateless passports’, durch den man über Luxemburg in ein anderes Land fliehen konnte.

Ich wusste, dass ich aufgrund meiner Familiengeschichte die Chance hatte, als ‚staatenloser Bürger’ anerkannt zu werden und durch diesen Status ausreisen konnte.

Meine Eltern stammten nämlich ursprünglich aus dem Kaiserreich Rumänien. Die Familie meines Vaters kam 1898 nach Wien. Mein Vater kämpfte im I. Weltkrieg für Österreich und war ein wirklicher Patriot. 1919 kam ein Gesetz heraus, nach dem sich alle Menschen, die nicht im neuen Österreich geboren waren, nur um die Staatsbürgerschaft ansuchen mussten, um diese zu erhalten. Mein Vater dachte aber, dass dies für seine Familie ohne Belang wäre. Schließlich lief die Frist für eine Bewerbung ab und unsere Familie war offiziell staatenlos. Dies wusste ich nicht. Als ich auf der Uni meinen so genannten Heimatschein herzeigen sollte, konnte ich diesen natürlich nicht aufweisen und erhielt den Status ‚Ausländer’.

Dieser Ausweis für Staatenlose rettete mir mehrere Male das Leben, denn ich war nun offiziell Ausländer und blieb verschont:

Einmal war ein SS-Mann bei meiner Cousine, die mit der Zahnbürste den Boden reiben musste. Der SS-Mann fragte nach meinem Ausweis, und als ich ihm durch diesen meine Staatenlosigkeit bescheinigte, schrie er nur: ‚Hau ab!’’

‚Es wird schon nix passieren’

Meine Eltern suchten um keinen Reisepass an. Sie waren der Meinung, es würde ihnen schon nichts passieren. Ich glaubte das nicht und begab mich zur Beantragung eines Visums ins „Konsulat Luxemburg“, das im Grunde ein schlichtes Apartment war. Die Beamtin dort fragte mich:

‚Was wollen Sie?’

Ich antwortete: ‚Einen Transitpass.’

‚Wohin wollen Sie?’

‚Nach Amerika.’

Wie erstaunt war ich, als die zuständige Beamtin mir prompt antwortete:

‚Kommen Sie morgen für das Visum vorbei.’

Nach 24 Stunden Wartezeit erhielt ich durch das Konsulat mein Visum.

Ich sehe noch meine Eltern vor mir, als ich mich vorübergehend von ihnen verabschieden wollte, um mich für meine Ausreise zum Westbahnhof zu begeben. Noch heute höre ich die letzten Worte meiner Mutter, die sie bei meiner Verabschiedung zu meinem Vater sagte, und die ich nie wieder vergessen werde:

‚Wir werden unseren Sohn nie wieder sehen’

Bedauerlicherweise sollte sie Recht behalten.

An der Grenze nach Luxemburg wurde unser Zug von der SA mit dem Befehl ‚Juden raus!’ angehalten. Ich wurde zum Verhör in einen Raum gebracht, wo ein deutscher Mann auf mich wartete. Ich erinnere mich, dass ich meine Violine bei mir hatte. Mein Gepäck wurde untersucht, ich bekam mein OK und durfte für die Weiterreise zum Zug zurück.

Als ich mich auf dem Weg zurück zum Zug befand, erlebte ich die größte Überraschung meines Lebens:

Der Deutsche, der noch Minuten zuvor mit mir im Vernehmungsraum gesessen hatte, sagte mir:

‚Ich wünsche Ihnen viel Glück.’

Dies von einem Deutschen zu jener Zeit zu hören, war wirklich unglaublich.

Als mein Freund Max und ich endlich in Luxemburg ankamen, hatten wir nicht die geringste Ahnung, wohin wir eigentlich gehen sollten.

Plötzlich sah Max ein bekanntes Gesicht:

‚Was machst du denn hier?’

Wir trafen doch tatsächlich Max’ alten Freund in Luxemburg wieder. Von ihm erfuhren wir, dass die jüdische Organisation ESRA 200 Leuten bei der Ausreise geholfen hatte.“

Die jüdische Organisation ESRA kümmerte sich nicht nur um die Visa, sondern auch um den Legalisierungsprozess und die Verpflegung bzw. Unterkunft der Neuankömmlinge. Auch die Bevölkerung bot den Flüchtlingen häufig Unterkunft an.

Charles teilte sich ein Zimmer mit drei weiteren Kollegen und schlief auf dem Boden:

„Da es ja nicht möglich war, in Luxemburg sofort Arbeit zu finden, hieß es für uns am Anfang, sich mit Hilfsarbeiten, wie Kirschen brocken und Häuser streichen, durchzuschlagen.“

‚Möchtest du nicht bei uns mitspielen?’

„Ich konnte ja recht gut Englisch, es war fließend. Immer wieder fragte man mich später, wo ich denn so gut Englisch gelernt und warum ich keinen Akzent hätte. Meine Antwort war immer dieselbe:

Ich hatte großartige Lehrer. Ich lernte es im ersten Bezirk in Wien: Im Kino. Durch Edward G. Robinson und Fred Astaire ...

Durch ESRA lernte ich drei Musiker kennen, die in einem nahe gelegenen Restaurant als Band auftraten. Musiker hatten ja die Erlaubnis, zu arbeiten, denn diese kamen ohnehin immer aus dem Ausland. So nahm ich meine Violine und spielte bei ihnen vor, woraufhin sie mich prompt fragten:

‚Möchtest du nicht bei uns mitspielen?’

Meine Antwort lag auf der Hand.

In der Zwischenzeit erreichten uns aber auch die furchtbaren Nachrichten über die Reichskristallnacht 1938. Die Sorge um meine Eltern wuchs. Ich kannte jemanden, der Leute über die Grenze schmuggelte. Durch ihn war ich schließlich in der Lage, 1939 Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen. Wir entwickelten eine eigene Codesprache, durch die wir kommunizierten und alle Vorbereitungen für ihre Ausreise trafen. Meine Eltern sollten über eine Brücke durch den Wald ihre Flucht antreten können. Doch sie wurden aufgehalten, konnten kein Ausreisevisum vorweisen und durften somit auch nicht nach Luxemburg auswandern.

Ich versuchte verzweifelt, Kontakt zu meiner Familie aufzunehmen, um mich darüber zu informieren, was denn vorgefallen sei.

‚Wir sind wieder zuhause’

Zwei Wochen später erhielt ich eine Postkarte von der Wohnadresse meiner Eltern in der Margarethenstrasse mit den Worten ‚Wir sind wieder zuhause’ darauf.

Als ob dies alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, verloren sie auch noch ihre Wohnung in Wien und mussten zu anderen Leuten ziehen. Ich machte einen Cousin meiner Mutter in Amerika ausfindig und ging zur amerikanischen Botschaft in Antwerpen, um für mich ein Visum zu beantragen. Ich erhielt auch ein OK. Aber das war erst der Anfang des bürokratischen Spießrutenlaufs:

Immer wieder wurden neue Dokumente über unsere Verwandten aus New York angefordert. Irgendwann 1939 wurden die angeblich letzten Papiere eingefordert. Doch dann brach der Krieg aus, und wir waren alle mitten drin.

Ich war damals Chorsänger in der Synagoge, und als ich dorthin kam, teilte mir der Chorleiter mit, er hätte einen Brief für mich in seinem Haus. Ich war nämlich vorher umgezogen, deshalb lag keine Adresse mehr von mir vor und meine Briefe wurden direkt zu ihm geschickt.

Wir gingen zu ihm in die Wohnung und seine Frau fand einen Brief, der an mich adressiert war, versteckt hinter Kaffeetassen. In dem Schreiben vom September 1939 wurde ich aufgefordert, mich zur Botschaft zu begeben, um mein Visum abzuholen. Zwei Monate später, am 18. Dezember 1939, kam ich in New York an.

Im Oktober 1941 erhielt ich eine Postkarte meiner Eltern, auf der sie mir mitteilten, dass sie nach Litzmannstadt deportiert würden. Das war das letzte Mal, das ich von Ihnen hörte.“

50 Jahre später findet Charles in Zusammenarbeit mit dem Leiter der Archive im Holocaust-Museum in Washington deutsche Unterlagen aus Polen, die darauf schließen ließen, dass seine Eltern im Logbuch Volume IV verzeichnet sein dürften.

Durch diese Aufzeichnungen erfährt Charles nach so langer Zeit die traurige Wahrheit:

Seine Eltern wurden am 28. Februar 1942 im Zuge der Aktion T7 in Lkws vergast, der Rest seiner Familie wurde nach Auschwitz geschickt und kam dort um.

In den USA arbeitet Charles Stein anfangs in einer Textilfabrik für 14 Dollar die Woche. Nach sechs Monaten wird die Fabrik aber geschlossen. Charles sucht weiterhin nach einer Möglichkeit, sein Medizinstudium zu beenden.

Im September 1941 erhält er zwei Briefe, die direkt an ihn adressiert sind:

In einem wird ihm ein Stipendium an einer Universität in South Carolina angeboten. Voraussetzung ist jedoch, Chemie zu studieren.

Im zweiten Brief steht: „Your friends and neighbors have selected you fort he Army.“

Charles trifft eine Entscheidung und geht zur Army. Zwei Monate später erfolgt der Angriff auf Pearl Harbor.

Am 12. August 1942 wird Charles amerikanischer Staatsbürger; 1943 wird er Leutnant der Artillerie. Im selben Jahr wird er wegen seiner Sprachkenntnisse und seines europäischen Hintergrunds vom Militär aus zur Abwehr nach Washington DC berufen. Am 7. Juni landet er in der Normandie.

Durch die russische Besetzung Wiens ist es ihm auch nicht möglich, seine alte Heimat sofort nach dem Krieg zu besuchen.

Charles verfolgt weiterhin das Ziel, sein Medizinstudium zu beenden und sucht für Stipendien an. Ihm wird zwar die Möglichkeit eines Studiums in Zürich und Basel zugesprochen, hierzu fehlen aber die notwendigen Geldmittel. Nach einem gescheiterten Versuch in der Exportbranche bekommt er 1948 ein Schreiben aus dem Pentagon, in dem er aufgefordert wird, doch mit den Behörden Kontakt aufzunehmen.

So geht Charles zurück zur Army und wird einen Monat später Chef der Übersetzungsabteilung. 1951 wird er für über ein Jahr nach Korea geschickt. Zwischen 1966 und seiner Pensionierung 1978 arbeitet er als Diplomat für das US State Department.

Im Oktober 1973 besucht Charles erstmals wieder seine alte Heimat Wien.

Ich danke Charles Stein dafür, dass er sich die Zeit genommen hat, mir geduldig seine so spannende wie traurige Geschichte zu erzählen, und uns dadurch an einem weiteren Schicksal eines Holocaustopfers teilnehmen lässt.

 

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